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»Womöglich ist es auch ein medizinischer Fall.« Der Leutnant setzte sich; Unschlüssigkeit zeichnete sein Gesicht. »Irgendwoher muß das Mädchen schließlich stammen. Das zu ermitteln ist nur eine Zeitfrage. Ich tippe mittlerweile auf ein Nachbarland. Vielleicht haben Sie es vorhin gehört man wird den Produzenten des Pullis beispielsweise anhand der eigenartigen Schrift feststellen. Schlimmstenfalls konsultieren wir einen Schriftsachverständigen, dann geht die Sache via Interpol. Reine Routine. Sie wissen, wie so etwas vor sich geht: Jedes Indiz begründet eine Spur; wo die sich kreuzen, liegt der Kern des Falles. Meine Aufgabe ist es, die Randpunkte aufzufinden, bei denen wir beginnen.«

Zeitfrage? Polizeifall? Reine Routine? Gegen meine Absicht mischte ich mich ein. »Gesetzt einmal, der Erkenntnis stand bleibt so! Niemand vermißt das Kind. Ihre Untersuchungsmaschine tappt ins Leere. Die Kleine beschreibt ihre Heimat so, daß sie nicht auffindbar ist wie die Tür oder wie der teuflische Garten...«

»Worauf zielen Sie ab?« fragte Putze argwöhnisch und knetete seinen Notizblock.

»Daß wir nicht vorzeitig ein Blickfeld ausblenden. Daß der Fall eventuell in die Hände der Wissenschaftler gehört. Ich gebe zu, mein Argument ist weit hergeholt, aber ich habe von einem ganz ähnlichen Erlebnis gelesen.«

»Tatsächlich?« rief Hartmann. »Lassen Sie hören!«

»Es war in Nordamerika und vor gut hundert Jahren Ort und ein Datum sind angegeben da gerieten zwei Männer im Gewitter an eine Haustür, öffneten... und sahen vor sich einen seltsamen Raum. Unbedacht trat der eine ein, dem anderen glitt die Tür aus der Hand, klappte zu. Man fand den Zugang nie wieder, der Hineingegangene blieb verschollen, der Bericht des anderen wurde als Phantasterei abgetan. Vielleicht zu Recht, vielleicht war er auch wahr. Dann aber! Wie viele Menschen mögen auf ähnliche Weise verschwunden sein?«

»Wo haben Sie das gelesen?« fragte Putze rasch. »Aus der Fachliteratur ist mir kein solcher Fall bekannt. Ich bezweifle übrigens, daß man vor hundert Jahren exakt untersuchen konnte.«

»In einer Erzählung von... Warten Sie. Von E.T.A. Hoffmann? Nein, ein Amerikaner. Edgar Allan Poe? Auch nicht. Bierce – nein. Doch! Bierce! Ambrose Gwinnett Bierce.«

»Aus einem Pitaval?«

»Er nannte es eine Erzählung. Phantastische Belletristik.«

»Ach, etwas Poetisches. Damit kann ich nichts anfangen, ich brauche Fakten. Wo ist die Tür? Ohne sie...« Der Leutnant zuckte die Schultern.

Ein solches in Vorschriften gezwängtes Denken unterhalb der Phantasie reizte mich, diesmal allerdings auf ganz andere Weise. »Womöglich haben Sie sie bereits. Das HieroglyphenSignum! Es deutet auf Ausland. Wie käme das Kind dann hierher? Und ganz hypothetisch: Was machen Sie, wenn sich das Mädchen gar als nicht irdisch erweist? Dann wäre sie wirklich >vom Himmel gefallen<«

Putze lächelte mit schmalen Lippen. »Danke, Doktor. Für Science-fiction und Gespenstergeschichten bin ich nicht zuständig. Ich ziehe es vor, die überschaubaren Wege zugehen. Erst wenn sie blind enden, greife ich zur Spekulation vielleicht. In meinem Beruf gilt nun mal das Faktum. Wem es recht gibt...«

Der August klang angenehm warm aus; dieser Tag aber hatte schon heiß begonnen und war bald schwül geworden. Seit zwei Wochen hatte es nicht geregnet, der Wind erlosch, und die Sonne schien durch bleiernen Dunst. Ein Gewitter lag in der Luft.

Die Kinder spielten im nahen Park. Das war uns lieb, hatten wir doch die Wohnung für uns.

Olaf saß am Fenster, Edith neben mir auf dem Sofa, der Leutnant hatte den Platz am Blumentisch eingenommen. Daß Putze auf einen Kaffee vorbeischaute, hatte sich zu einem Brauch entwickelt. Ob er bei uns anklopfte oder bei Hartmanns jedesmal kam der jeweils andere herüber, und zu viert plauderten wir ein Stündchen. Irgendwann endete das Gespräch bei der rätselhaften Tür zum Labyrinth; so auch diesmal.

»Ich bin übrigens nicht nur aus alter Gewohnheit gekommen«, sagte Putze. »Heute früh auf der Dienstbesprechung wurde festgelegt, daß von unserer Seite die Ermittlungen eingestellt werden im Protokoll steht zwar >ausgesetzt<, aber... nun ja.«

»Ohne ein Resultat?«

»Und ohne eines in Sicht, Doktor!« gab er zurück. »Was kann eine Polizei anderes tun? Vorgestern bekamen wir den letzten, längst überflüssigen Beweis. Wir greifen ins Leere.«

»Die Sache mit der Hieroglyphe? Sie waren doch überzeugt...«

»Wir haben den Computer sämtliche Firmensignets der letzten zwanzig Jahre damit vergleichen lassen, ein Datenwust zum Irrewerden. Das Ergebnis ist negativ. Dann verglichen unsere Experten dies Signum mit den Schriftzeichen aller existierenden Sprachen. Zwar besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit den alten indomalaiischen Buchstaben, aber man hat uns versichert, die Art der Abweichungen beweise, daß dies Zeichen nicht dort gefertigt sei. Und daß sich von den Fasern und den Farbstoffen kein Hersteller ermitteln ließ, habe ich Ihnen ja schon vor anderthalb Jahren gesagt«

»Und daraus folgt?«

»Es ist das letzte Indiz. Wir konnten beweisen, daß Agnes oder Agnis, wie sie sich anfangs nannte nicht von dieser Welt ist. Alles Weitere überschreitet unsere Zuständigkeit. Wo und wonach soll die Polizei recherchieren? Das hieße Geld verschwenden. Wußten Sie übrigens, daß es heute gerade tausend Tage her ist, daß die Tür aufging? Ich habe es nachgerechnet. Ein Jubiläum, das Grund ist, einen Strich zu ziehen.« Er schmunzelte und leerte seine Tasse. »Sie selbst sagten damals, es wäre eine Sache der Wissenschaftler. Nun eben, mögen die sich damit abgeben. Ich habe aber läuten hören, dort ist man der Sache auch leid.«

Beim letzten Ärztekongreß hatte ich unterderhand dasselbe gehört; ich schwieg.

»Vielleicht ist es das beste so«, meinte Edith. »Mögen die Instanzen grübeln Hauptsache ist, daß Agnes zur Ruhe kommt. Sie hat zuviel durchlitten. Erst der Hunger im Labyrinth, die Angst; und vergebt nicht, sie hat die Ihren verloren, alles. Ihr Gebbingen unterscheidet sich mehr von Göppingen, als ein paar Buchstaben glauben lassen, auch wenn es ihm wie ein Zwillingsbruder gleicht.«

Der Leutnant nickte. »Herr Hartmann, ich habe eine gute Nachricht. Die Adoption ist bewilligt, trotz einiger Bedenken beim Amt, weil Sie alleinstehend sind. Ich hörte es bei der Besprechung. Das Papier geht Ihnen demnächst zu. Kann eine Behörde mehr tun?«

»Wie gut, daß Agnes noch Kind ist. Kinder gewöhnen sich schneller ein. Ihr Deutsch klingt längst nicht mehr so kraus.«

»Leider, Edith, leider. Ich fand ihr Schwäbisch angenehm, so warm, locker, so herzig.«

»Doktor, es ist kein schwäbischer Dialekt«, sagte Putze. »Unseren Thüringer Ohren klingt es so, ein Schwabe aber würde es sogleich erkennen. Wir haben das erfahren. Jemand war mit ihr in Göppingen, um ihre Verwandten aufzusuchen. Sie fand die Straße, meinte aber, sie sei ein klein wenig anders. Das Haus war rotbraun statt graubraun und das Türwappen ein Löwenkopf statt eines Stierhauptes. Die dort wohnten, kannte sie nicht. Und auch sie war unbekannt.«

Etwa so hatte ich es mir gedacht schon bald nach jenem Ereignis, als sich abzuzeichnen begann, daß meine Hypothese so unsinnig nicht war, wie es anfangs schien. Eine Parallelwelt, ähnlich der unseren, ihr geradezu verwandt, aber doch anders; und schwerlich war sie die einzige. Gerade ich hatte prophezeit, daß sämtliche Recherchen ins Leere stoßen würden. Aber die Folgen für Agnes, für Olaf und für uns hatte ich damals nicht bedacht.

»Sollten wir nicht einen Schluck auf die bewilligte Adoption trinken? Oder müssen Sie noch Auto fahren, Herr Leutnant?«

»Ich bin im Dienst, Sie wissen ja...«