Ein Paukenschlag, ein mißtönender Fanfarenstoß!
Plötzlich erblickte ich im Inneren des Kristalls wie auf einer Bühne, was an jenem Abend geschehen war: der Streit, Jackies Geste, mein Griff nach dem Bronzebären vom Blumentisch,
mein Schlag! Alles wie in Zeitlupe, unabwendbar, unwiderruflich, in seiner Langsamkeit doppelt grausam.
Als Jackie zusammenbrach, als Blut und Hirn aus der Wunde quollen, schrillte ein peinigender Akkord. Ich wußte, er setzte den Schlußstrich unter mein verpfuschtes Leben, und es ergab keine gute Bilanz. Weh taten mir die Ohren von den Kadenzen.
Weinte ich? Möglich.
Von neuem setzte die Musik ein, unruhig flach in meiner entsetzlichen Angst, in der kaum kaschierten Ruhelosigkeit, in der flackernden Furcht hinter dem steten Lächeln. Ein dissonanter Orgelchor spielte den Trauermarsch meiner Feigheit, der vielen dummen und naiven Ausreden. Wie schämte ich mich des Thomas DeVito!
>Wo ist mein Lied? Ich will es hören! Bitte! Oder... oder ist es geschändet, und ich bin verdammt?<
Leise, in tieftraurigem Moll, schwebten die sechs Töne durch den dunklen Raum, zitternd beim Versuch, sich über die Dissonanzen zu erheben vergeblich.
Der strahlende Bläserakkord gehörte schon zu einer anderen, fremdartig strengen, abgeschlossenen Melodie, die nun regierte. In murmelnder Trauer verebbte mein Thema, erlosch. Lähmende Verzweiflung nahm mir den Atem.
4
Zwei blaßgraue Augen blickten mich an. Ich schloß die Lider noch einmal, hob sie. Was war geschehen? Wo befand ich mich? Ein Zimmer mit Schreibtisch, Waschbecken mit Spiegel, drei Sesseln; ich lag auf einem lederbezogenen Sofa wohl ein Ordinationsraum. Charles!
In seinem Gesicht lag unverhülltes Entsetzen. Wußte er...?
»Tom, du hättest mir sagen sollen... Als du zusammenbrachst, erklärte mir June, was sie in der Zeitung gelesen hatte: die Sache mit dem Prozeß. Glaub mir, hätte ich das gewußt, ich würde dir dringend abgeraten haben. Mein Apparat ist unerhört wirksam, manchmal beinahe gefährlich.«
Ich brachte keine Antwort über die Lippen.
»Ich versuche die Dinge zu sehen, wie du sie wohl siehst, und beschränke mich auf das Praktische: Der Raum ist schallisoliert; ich allein hörte über Mikrofon und Kopfhörer zu. Das muß sein für den Notfall, du verstehst. Natürlich gilt meine Schweigepflicht. Ich bin Arzt. Der Computer registriert zwar sein Musikprogramm für meine Statistik; wenn du magst, übergebe ich dir die Kassette, andernfalls lösche ich sie nachher. Ich denke nämlich... Tu mir einen Gefallen, Tom, und komm nie mehr zu mir! Mein Apparat drang in die Geheimnisse deiner Seele ein. Ich will aber nicht wissen... Schon was ich vermute... Es soll dein Eigentum bleiben.
Gut, die Umstände aber du hast dich ihnen nie entgegengestellt, hast sie akzeptiert, hast sie womöglich ausgenutzt. Gegen sie vermag die Medizin nicht zu kämpfen. Die Maschine kann dir also nicht helfen.«
Antworten! Irgend etwas sagen! Doch meine redegewohnte Stimme versagte. Trotz und Angst stritten in mir und immer die Szene vor dem inneren Auge: die bronzene Figur der Hieb Jackie hintenüberstürzend in ihrem Gesicht für immer erstarrte Furcht das Blut...
»Nein!«
Charles zuckte zusammen und wich zurück.
Taumelnd erhob ich mich. Viel Zeit verging, bis meine Beine nicht mehr schlotterten. Ich warf einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. War das graue, zerfallene Gesicht meins?
Irgendwie stolperte ich die Treppe hinab und über die Straße in den Park und durch den Park und durch ein paar Seitenstraßen in mein Appartement. Weil ich wußte, ich würde nicht einschlafen, nahm ich zwei Tabletten.
5
Und so ist es nun.
Ein Sturm durchtobt mich und läßt die Mauern bersten und die Pfeiler wanken. Wo ist der clevere Thomas DeVito, für den alles nur ein Mittel war? Ich treibe dahin, weiß mit meiner alten Welt nichts zu beginnen, kann aber nicht am anderen Ufer Fuß fassen denn da wartet Jackie auf mich.
Wie konnte ein Elektronenhirn dies begreifen, wie die Musik dies vermitteln und in mir wachrufen die Qualen, die entsetzliche Angst, die Ruhelosigkeit? Sicher, ich bin immer noch ich; zuzeiten stößt von innen der alte DeVito durch und sagt: Es war doch bloß ein Uied. Nimm es als Warnung, meinetwegen als eine Medizin, die du nicht zu trinken brauchst. Bloß? Ein Höllenkonzert mit dem Teufel am Dirigentenpult! Dieses Lied wühlt das Gedächtnis auf und liefert die Details penibel nach. Welcher Mörder vermag seine Tat stets aufs neue zu erleben?
Was soll geschehen? Ohne Tabletten gibt es keine Stunde Schlaf für mich. Da sind Alptraume, die mich schreiend auffahren lassen. Wenn ich gehe, stehe, sitze, sind meine Gedanken woanders. Es wühlt in mir, ich weiß nichts anderes mehr als...
Ich muß diesen Brief schreiben und als Geständnis abgeben. Vielleicht, daß der Hurrikan dann erlischt. In der juristischen Geschichte Virginias ist dies meines Wissens ohne Beispiel; was schert es mich, daß mich jedermann für verrückt erklären wird! Freispruch und dann Selbstbezichtigung das tut man
nicht. Am wenigsten in Kreisen, mit denen ich verkehre. Nein? Aber da peitschen in mir die Töne jenes Liedes...
Ein wenig bin ich sogar noch der alte Thomas DeVito. Da ich schon verloren bin, sollen es die anderen auch sein. Charles’ Erfindung muß unbedingt ausgebaut werden. Dann ist doch irgendwie ein guter Abschluß erreicht.
Und noch etwas weiß ich: Wenn ich den Briefkastendeckel über diesem Brief klappern höre, wird es wie ein neuer, leiser, erster Hall jener sechs Töne sein.
Cora
Ich erwachte mit wütenden Schmerzen in der Brust. Neben meinem Bett stand ein Medicomat und reichte mir etwas zu trinken. Der Schmerz ließ nach und war bald nur noch ein störender Druck im Kopf und in der Rippengegend.
Mühsam versuchte ich, mich zu erinnern. Was war denn geschehen? Ach ja... Mein Auto aus der Spur gesprungen und gegen einen Baum...
Ein eisiger Schreck durchzuckte alle Nerven.
»Wo ist Cora?« keuchte ich.
Der Medicomat schwieg, er war für solche Fragen nicht programmiert. Doch ich sagte mir wenig später selbst, daß sie gar nicht neben mir liegen konnte. Die Frauenabteilung befand sich zweifellos woanders.
Überhaupt, Verkehrsunfälle sind heutzutage nicht mehr tödlich wenigstens höchst selten, seitdem wir die moderne Medizin haben. Damit beruhigte ich mich wieder. Später...
Die Schlafmittel ließen mich ruhen und dämmern. Erst nach mehreren Tagen durfte ich Fragen stellen. Ich rief den Arzt.
Er hörte mich schweigend an und zuckte nur mit den schwarzen Brauen, als ich ihn bat, sich nach Coras Gesundheitszustand zu erkundigen. Dann forderte er telefonisch die Unterlagen über den »Unfall Nummer 204-800« an. Bis sie kamen, gab er sich zuversichtlich. Als er die Fotos zur Hand nahm, stutzte er.
»Ach... Sie sind das...«, murmelte er, auf einmal sichtlich verlegen. Ein merkwürdiger Blick traf mich.
»Doktor, was ist passiert? Machen Sie mir keine Angst!«
Er hielt mir einige Farbbilder hin, die wohl die Verkehrskontrolle angefertigt hatte. Andere vermutlich zeigten sie mich behielt er und steckte sie in die Brusttasche.
Das Auto war arg zertrümmert, es hatte sich gewissermaßen in den Baum verbissen. Ob... nein, auch mir war ja kaum etwas passiert! Es mußte gut abgegangen sein. Es mußte! Aber warum umging er dann eine konkrete Antwort?
»Wo ist meine... das heißt, wo ist Cora?«
Der Arzt hob wieder die Augenbrauen. Dann suchte er aus den Bildern eines heraus. »Hier sieht nicht gut aus. Es dürfte sich kaum lohnen, etwas zu unternehmen.«
Sein Tonfall brachte mich fast zur Raserei. Kaum lohnen? Das sagte ein Arzt?