Выбрать главу

«Da gommt er«, flüsterte der Hauptmann der Volksarmee und zeigte zum Wald. Ein Lichtstreifen kroch über die Straße, schwach vernahm man das Brummen des Motors. Oberst Jassenskij nickte. Er schwitzte trotz der Nachtkühle, und immer wieder mußte er die Okulare seines Nachtglases wischen, weil sie beschlugen.

«Gleich gommt der Gnall!«flüsterte der Hauptmann erregt. Für einen Mann aus Pirna an der Elbe ist so eine Nacht ein unvergeßliches Erlebnis.

Oberst Jassenskij verfluchte den Mann an seiner Seite. Jetzt hätte er allein sein müssen, um diese Minuten zu genießen.

Die vier Männer auf dem Baumstamm legten ihre Thermosflaschen ins Gras, als sie den Wagen von weitem kommen sahen. Dann gingen zwei auf die andere Straßenseite, zwei blieben am Baumstamm stehen, und zwischen ihren Händen hielten sie nun ein dünnes Nylonseil, strafften es und spannten es in Brusthöhe über die Straße.

«Eine Sauerei!«sagte der Hauptmann, der mit drei >Waldarbeitern< zehn Meter seitlich der vier Männer lag.»Die im Wagen sehen das dünne Seil nicht. Die Schrecksekunde, wenn sie dagegenfedern, nutzen die Burschen aus und überwältigen sie. Ein verrückt einfacher Anhalterplan. «Was dann geschah, war keineswegs romantisch oder aufregend. Es hatte nichts von der Dramatik überspitzter Agentenfilme oder der sprudelnden Phantasie von Romanschreibern. Die Wirklichkeit ist trocken und einfach logisch.

Oberleutnant Wolter prallte gegen das straffe Nylonseil.»Scheiße!«brüllte der Feldwebel am Steuer, würgte den Motor ab und riß die Tür auf.

Vier Männer stürzten auf den Wagen, so schnell, wie sich Jagdfalken auf ein Kaninchen fallen lassen. Geübte Boxer waren es, denn die beiden Feldwebel erhielten einen gut gezielten Hieb gegen das Kinn, so wunderbar geschlagen, daß sie lautlos umsanken und die Besinnung verloren.

Das war die einzige Tat, die gelang. Bevor sie Oberleutnant Wolter überwältigen konnten, der den völlig Erstarrten spielte, aber den Finger an den Abzugsbügel seiner Pistole gelegt hatte, wurde es um den Wagen herum lebendig, man hörte Keuchen und Stöhnen, Schläge klatschten dumpf durch die Finsternis, ein Körper fiel gegen den

Wagen, über die Straße wälzten sich zwei Leiberknäuel, jemand fluchte russisch und wimmerte dann auf, und plötzlich war die Straße hell erleuchtet, ein Militärlastwagen raste heran und stoppte mit kreischenden Bremsen vor den noch immer miteinander ringenden Menschen.

Drüben am Wachturm ließ Jassenskij sein Nachtglas sinken. Als die Schweinwerfer aufflammten, wußte er, daß alles verloren war. Er senkte den Kopf und lehnte sich gegen die Stützen des Turmes. Der Volksarmee-Hauptmann nagte an der Unterlippe.

«Das ist verraden wor'n«, sagte er heiser.»Nu gucke mal da, wie die loofen.«

Jassenskij ging zurück zu dem dunklen Bauernhaus. Er war jetzt der einsamste Mensch auf der Welt. Ihn interessierte nicht mehr, was jetzt an der Grenze geschah. Seine Niederlage war so vollkommen, daß ihm jeder Atemzug in der Brust schmerzte.

Nicht nur Wolter war für immer verloren, auch der minenfreie Streifen war nun bekannt. Selten war ein Mann glückloser zurückgekehrt.

Und plötzlich blieb er stehen, wie von einer Faust zurückgestoßen. Von drüben dröhnte eine Stimme durch ein Elektromegaphon.

«Leben Sie wohl, Oberst Safon Kusmajewitsch Jassenskij! Dimitri Sotowskij bittet Sie, für ihn das schöne Tbilisi zu grüßen.«

Jassenskij heulte innerlich wie ein angeschossener Wolf.

Diese Schmach, dachte er. Dieser Spott! Ist jemals ein Mensch so tief gedemütigt worden?

Er ging weiter, mit hängenden Schultern, und es war bezeichnend, daß niemand ihm folgte, nicht einmal der sächsische Hauptmann, der» Freundschaft! Freundschaft!«geschrien hatte, als Jassenskij eintraf.

Ratten, alles Ratten, dachte er bitter. Und für sie soll man seinen Kopf hinhalten?

Er spuckte aus, und danach wurde es ihm viel wohler.

Auf der anderen Seite wurden vier Männer in Handschellen in den Militärlastwagen geschoben. Sie hatten verquollene, zerschlagene Gesichter, denn sie hatten sich gewehrt wie eingekreiste Bären.

«Ein guter Fang«, sagte zwei Tage später der General in Bonn und bot Wolfgang jovial eine Zigarette an.»Nur wieder ein Schlag ins Wasser. Haben alle vier den diplomatischen Status. Sind schon auf dem Rückweg nach Moskau. Und die Botschaft reagiert so kalt, als stehe sie auf dem Nordpol.«

Auch Jassenskij flog von Meiningen über Berlin nach Moskau zurück. Genau wie bei Borokin war es: Nie wieder hörte man etwas von ihm. Rußland ist ein weites Land, es hat genug Platz für einen kleinen, glücklosen Menschen.

Heiraten ist, entgegen der Ansicht alter Ehemänner, nicht nur ein schöner Brauch, sondern in erster Linie ein Herzensbedürfnis und eine öffentliche Bestätigung, daß man für ein ganzes Leben zusammenbleiben will. Zumindest hat man am Tage der Hochzeit diese Absicht und tut sie mit seinem Ja in bester Überzeugung kund.

Bevor man aber zu dieser öffentlichen Meinungsäußerung kommt, organisieren die Behörden ein kleines Hürdenlaufen — nicht, um den Heiratswilligen menschenfreundlich Zeit zum Nachdenken zu geben, sondern um zu beweisen, daß es keinen Schritt im Leben gibt, der nicht aktenkundig und mit Schwierigkeiten verbunden ist. Zur Zeit Moses schickte Gott als Plage die Heuschrecken, wir Modernen haben statt dessen die Verwaltung. Heuschrecken fliegen weiter, Verwaltungen bleiben und vermehren sich sogar. Wie herrlich waren die Plagen des Altertums!

Mit Wolfgang Wolter und Irene Brandes gab es keinerlei Schwierigkeiten; sie hatten alles, was ein richtiger Mensch braucht, um überhaupt Mensch zu sein: Geburtsurkunde, Taufschein, Impfschein, Heiratszeugnis der Eltern. Ein rundes, glattes, beamtenwohlgefälliges Leben. Aber Dimitri und Bettina. das war ein Kreuzweg, den Karl Wolter mit dem Dickschädel eines Kolka Iwanowitsch zu gehen begann.

«Es geht nicht!«sagte man ihm, als er Dimitri in das Amtszimmer schob und schrie, man solle ihn ansehen und auch anfassen, er sei wirklich ein Mensch, er sei geboren, erwachsen und geschlechtsreif.»Wir können keinem trauen, der keinerlei Papiere hat.«

«Die sind in Rußland!«schrie Wolter.»Er ist geflüchtet!«

«Dann hätte er mit Papieren flüchten sollen.«

«Man hat sie ihm abgenommen!«

Das sind Grenzfälle, die kein subalterner Beamter entscheiden kann. In den Ehegesetzen steht, daß nur heiraten darf, wer großjährig oder für großjährig erklärt ist, wer seine Identität nachweisen kann, kurzum: Wer beweisen kann, daß er wirklich er ist.

Wolter rannte herum, fluchte wie ein Muschik, dessen Kuh eine Euterentzündung hat, rief Bonn an und bat durch Wolfgang um Unterstützung der vorgesetzten Behörden. Aber auch das war keine Lösung des Problems; selbst das Wohlwollen von Generälen und Ministerialräten kann nicht überdecken, daß hier ein Mensch heiraten will, der keine Papiere besitzt.

«Er nennt sich Sotowskij«, sagte ein Beamter bedauernd.»Ebensogut kann er Malinowskij heißen und bereits in Rußland verheiratet sein. Wissen wir es?«

«Er ist Sotowskij! Ich kenne doch meinen Stiefsohn! So wahr ich Kolka Iwanowitsch Kabanow bin.«

«Da haben wir es ja«, sagte der Beamte fast traurig.»Sie sind doch Karl Wolter. Bringen Sie bitte keine Verwirrung in die Dinge. Besorgen Sie die Papiere, und alles ist gut.«

Wolter seufzte tief, bedauerte, nicht in Tiflis zu sein, wo man in solchen Fällen fluchen durfte, und ging. Und dann tat er etwas, von dem ihm jeder abgeraten hätte, wenn er darüber mit anderen gesprochen hätte. Er fuhr nach Bonn und ließ bei der sowjetischen Botschaft in Rolandseck anfragen, ob man ihn empfangen könne.

«Um Himmels willen!«schrie Wolfgang Wolter, als er durch das Telefon von seiner Mutter erfuhr, was Wolter plante.»Sie halten ihn dort fest! Für die Russen ist er doch ein flüchtiger Genosse! Und keine Macht der Welt kann verhindern, daß sie ihn zurück nach Rußland bringen und dort aburteilen!«