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Knapp zwei Minuten später, nachdem der Funkspruch abgesetzt worden war, bog Kuragin seinem Intimfeind die Hände auf den Rücken, legte ihm Handschellen an und nahm auf dem Sitz hinter ihm Platz.

»Na also!«, rief er erleichtert aus, damit beschäftigt, sich ohne erkennbare Eile anzugurten. »Warum denn nicht gleich so?«

»Was haben Sie vor, Kuragin?«, keuchte Slavín und warf einen wütenden Blick über die rechte Schulter. »Sie haben doch nicht etwa Angst, dass ich stiften gehe, oder?«

»Sie vielleicht nicht«, gab Kuragin mit unbewegter Miene zurück, während er einen Helm mit der Aufschrift CCCP aufsetzte. »Aber wir. Passt wie angegossen, finden Sie nicht auch?«

Slavín erbleichte, wurde kalkweiß im Gesicht. Dann richtete er den Blick wieder nach vorn.

Kuragin nahm es mit einem hintergründigen Schmunzeln hin. »Berijew R-1«, dozierte er mit sichtlichem Vergnügen, »erstes mit Strahltriebwerken angetriebenes Flugboot weltweit. Ausgestattet mit Radar, vier 23-Millimeter-Kanonen, Druckkabine und – sozusagen die Krönung sowjetischer Ingenieurskunst – Schleudersitzen! Der Platz des Kopiloten, den wir uns zu manipulieren erlaubt haben, natürlich nicht mit inbegriffen.«

»Das können Sie nicht …«

»Und ob ich das kann, Slavín!«, fiel Kuragin seinem Widersacher ins Wort. »Für den Fall, dass es Ihnen ein Trost sein sollte – ich habe mir die Freiheit genommen, die Westberliner Kripo über Ihr geplantes Tête-à-Tête mit einem gewissen Curt Holländer, seines Zeichens Offizier in besonderem Einsatz des MfS, in Kenntnis zu setzen, als ausgleichende Gerechtigkeit sozusagen. Wer weiß, wie lange Ihr Intimus die Belohnung, die er aus Ihren Händen in Empfang genommen hat, überhaupt wird genießen können. Schön und gut, alles hat seinen Preis, vor allem das Wissen um den Verbleib des Bernsteinzimmers. Ach, wenn wir gerade dabei sind: gestatten, dass ich die Karte für Sie in Verwahrung nehme?«

Halb wahnsinnig vor Furcht, Wut und Hass, musste Slavín mit ansehen, wie Kuragins Hand in seinem Jackett verschwand, die Karte hervorzerrte und sich anschließend wieder aus seinem Blickfeld entfernte. »Zu Ihrer Information, Slavín – Sasa wird gleich mit dem Sinkflug beginnen. In drei, vier Minuten, vielleicht auch etwas später, wird die Maschine irgendwo in der Schorfheide aufschlagen, mit ein wenig Glück sogar in einem der zahlreichen Seen.« Die Andeutung eines Lächelns im Gesicht, ließ Kuragin die Karte in seinem Overall verschwinden, griff nach Slavíns Koffer und nickte seinem Freund und Kollegen, der auf sein Kommando zum Ausstieg wartete, aufmunternd zu. »Tut mir leid, dass ich Ihnen bis dahin nicht Gesellschaft leisten kann, Slavín. Aber von Stund an werden sich nicht nur meine und diejenigen meines unvermutet zum Millionär gewordenen Freundes Sasa, sondern auch unsere Wege trennen. Es gibt da nämlich noch etwas, das ich zu erledigen habe – vorausgesetzt, mein Schleudersitz funktioniert. Gute Reise, Slavín – und einen angenehmen Flug!«

*

Obwohl er gut daran getan hätte, das Weite zu suchen, rührte sich Ole Jensen nicht vom Fleck, sondern starrte mit unbewegter Miene auf die Havel hinaus. Soeben hatte er den ersten Mord seines Lebens begangen, wenngleich er sicher war, dass es niemanden gab, der Holländer eine Träne nachweinte. Nicht ganz so sicher war er sich, was aus ihm werden sollte. Das Unwetter, welches er nur am Rande registriert hatte, war abgeebbt, die Luft längst nicht mehr so schwül und der Grunewaldturm, der sich am jenseitigen Ufer erhob, zum Greifen nah. Irgendwo da draußen musste sich der Leichnam von Holländer befinden, ein Spielball der Wellen, die ihn hoffentlich nie mehr an Land spülen würden. Ole Jensen holte tief Luft, reckte die müden Glieder und ließ die Zeit, die unwiderruflich hinter ihm lag, nochmals Revue passieren. Zehn Jahre war es her, seit er in die SS eingetreten war, nicht etwa aus freien Stücken, sondern weil Experten wie er dringend benötigt worden waren. Er hatte dafür büßen müssen, schlimmer, als er es sich je hätte träumen lassen. Mord und Totschlag, Gefangenschaft, Stasi-Knast – und das alles nur, weil es sich ein gewisser Herr Himmler in den Kopf gesetzt hatte, kurz vor Kriegsende noch ein paar Faustpfänder verschwinden zu lassen. Ausgerechnet er, Ole Jensen, hatte das Pech gehabt, zur Teilnahme an einem dieser Himmelfahrtskommandos verdonnert zu werden, eine Laune des Schicksals, die ihm jede Menge Scherereien, acht Jahre hinter Gittern und Erlebnisse beschert hatte, die er sein Lebtag nicht mehr vergessen würde.

Aber damit, stellte Jensen aufatmend fest, war es jetzt vorbei. Endgültig. Vom heutigen Tage an würde ein anderes Leben beginnen, weitaus besser als dasjenige, mit dem er für immer abgeschlossen hatte.

Völlig durchnässt, müde bis zum Umfallen und in Gedanken ausschließlich mit sich und seiner Zukunft beschäftigt, hatte Ole Jensen die Schritte, die sich vom Ufer aus näherten, nicht bemerkt, nicht einmal, als der hochgewachsene, mindestens ebenso abgekämpft und ausgelaugt wirkende Mann um die 40 direkt neben ihm stand, einen Glimmstängel ansteckte und sein Aroma mit sichtlicher Erleichterung genoss.

»Ole Jensen, wenn ich mich nicht irre?«, fragte er geraume Zeit später, als seine Lucky Strike beinahe zu Ende geraucht war. »Tom Sydow – Kripo Berlin. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hätte ich ein paar Fragen an Sie.«

34

Lubjanka in Moskau | 15.40 h Berliner Zeit

»Das war Andrej Antonowitsch«, sagte Lawrenti Berija, und er sagte es so, als seien die Erfolgsmeldungen, die ihm gerade übermittelt worden waren, im Grunde zu erwarten gewesen. Das wiederum war beileibe nicht der Fall, woran Georgi Malenkow, Erster Sekretär des ZK der KPdSU, keinen Anstoß nahm. Der 51-jährige, leicht übergewichtige und während der Stalin-Ära zu Amt und Würden gelangte Karrierist gab sich betont lässig, wenngleich er seinem Erzrivalen, aussichtsreichster Kandidat im Ringen um die Position des ersten Mannes im Staat, zutiefst misstraute und ihn nicht zu Unrecht verdächtigte, nach der alleinigen Macht zu streben. »Sieht so aus, als bekäme er die Lage in Ostberlin allmählich in den Griff.«

»Bleibt die Frage, ob wir uns darüber freuen sollen oder nicht«, sinnierte Malenkow und nippte an seinem Tee.

»Gretschko[37] hat richtig gehandelt, was denn sonst!«, empörte sich Berija, drei Jahre älter, von Geburt Georgier und nach Stalins Tod vor mehr als drei Monaten der meist gefürchtete Mann im Land. Ein Prädikat, das er seiner Funktion als Geheimdienstchef und dem Ruf verdankte, der bei Weitem rücksichtsloseste Scherge des verstorbenen Diktators gewesen zu sein. »Wo kämen wir da hin, wenn wir eine Rotte hergelaufener Konterrevolutionäre einfach gewähren lassen würden.«

Am Fenster postiert, von wo aus er einen ungestörten Blick auf den Lubjanka-Platz und die Bronzestatue von Felix Dserschinski[38] genoss, zog es Malenkow vor, auf die martialischen Anwandlungen des kahlköpfigen Kaukasiers zunächst nicht zu reagieren. Stattdessen leerte er sein Glas, stellte es ab und wandte sich dem Porträt zu, das am Kopfende des schmucklosen Sitzungssaales hing. Noch war es nicht so weit, dass es irgendjemand, er selbst mit eingeschlossen, gewagt hätte, Stalins Konterfei zu entfernen. Dazu war die Erinnerung an den Woschd[39] noch zu lebendig, die Schrecken, Ränkespiele und tödlichen Intrigen der Vergangenheit viel zu präsent, als dass man sie einfach hätte ignorieren und anschließend zur Tagesordnung übergehen können. »Genau, Genosse Berija, wo kämen wir da hin.«

»Ich muss schon sagen, Genosse Malenkow«, wunderte sich Berija, und bettete den Hinterkopf auf die mit einer Spitzendecke drapierte Lehne des Ledersessels, in dem er es sich gerade bequem gemacht hatte, »für meine Begriffe lässt Ihr patriotischer Elan einiges zu wünschen übrig.«

»Der Ihrige, Lawrenti Pawlowitsch, dafür umso weniger.«