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Geboren in Köln, am 21. Dezember 1917, während mein Vater als Landsturmmann Brückenwache schob; im schlimmsten Hungerjahr des Weltkrieges wurde ihm das achte Kind geboren; zwei hatte er schon früh beerdigen müssen; während mein Vater den Krieg verfluchte und den kaiserlichen Narren, den er mir später als Denkmal zeigte. „Dort oben“, sagte er, „reitet er immer noch auf seinem Bronzegaul westwärts, während er doch schon so lange in Doorn Holz hackt“; immer noch reitet er auf seinem Bronzegaul westwärts. Meine väterlichen Vorfahren kamen vor Jahrhunderten von den Britischen Inseln, Katholiken, die der Staatsreligion Heinrichs VIII. die Emigration vorzogen. Sie waren Schiffszimmerleute, zogen von Holland herauf rheinaufwärts, lebten immer lieber in Städten als auf dem Land, wurden, so weit von der See entfernt, Tischler. Die Vorfahren mütterlicherseits waren Bauern und Bierbrauer; eine Generation war wohlhabend und tüchtig, dann brachte die nächste den Verschwender hervor, war die übernächste arm, brachte wieder den Tüchtigen hervor, bis sich im letzten Zweig, aus dem meine Mutter stammte, alle Weltverachtung sammelte und der Name erlosch.

Meine erste Erinnerung: Hindenburgs heimkehrende Armee, grau, ordentlich, trostlos zog sie mit Pferden und Kanonen an unserem Fenster vorüber; vom Arm meiner Mutter aus blickte ich auf die Straße, wo die endlosen Kolonnen auf die Rheinbrücken zumarschierten; später: die Werkstatt meines Vaters: Holzgeruch, der Geruch von Leim, Schellack und Beize; der Anblick frischgehobelter Bretter, das Hinterhaus einer Mietskaserne, in der die Werkstatt lag; mehr Menschen, als in manchem Dorf leben, lebten dort, sangen, schimpften, hängten ihre Wäsche auf die Recks; noch später: die klangvollen germanischen Namen der Straßen, in denen ich spielte: Teutoburger -, Eburonen -, Veledastraße, und die Erinnerung an Umzüge, wie mein Vater sie liebte, Möbelwagen, biertrinkende Packer, das Kopfschütteln meiner Mutter, die ihren Herd liebte, auf dem sie das Kaffeewasser immer kurz vor dem Siedepunkt zu halten verstand. Nie wohnten wir weit vom Rhein entfernt, spielten auf Flößen, in alten Festungsgräben, in Parks, deren Gärtner streikten; Erinnerung an das erste Geld, das ich in die Hand bekam, es war ein Schein, der eine Ziffer trug, die Rockefellers Konto Ehre gemacht hätte: 1 Billion Mark; ich bekam eine Zuckerstange dafür; mein Vater holte die Lohngelder für seine Gehilfen in einem Leiterwagen von der Bank; wenige Jahre später waren die Pfennige der stabilisierten Mark schon knapp, Schulkameraden bettelten mich in der Pause um ein Stück Brot an; ihre Väter waren arbeitslos; Unruhen, Streiks, rote Fahnen, wenn ich durch die am dichtesten besiedelten Viertel Kölns mit dem Fahrrad in die Schule fuhr; wieder einige Jahre später waren die Arbeitslosen untergebracht, sie wurden Polizisten, Soldaten, Henker, Rüstungsarbeiter – der Rest zog in die Konzentrationslager; die Statistik stimmte, die Reichsmark floß in Strömen; bezahlt wurden die Rechnungen später, von uns, als wir, inzwischen unversehens Männer geworden, das Unheil zu entziffern versuchten und die Formel nicht fanden; die Summe des Leidens war zu groß für die wenigen, die eindeutig als schuldig zu erkennen waren; es blieb ein Rest, der bis heute nicht verteilt ist.

Schreiben wollte ich immer, versuchte es schon früh, fand aber die Worte erst später.“

Über das Buch

Die Geschichte dreier Generationen einer rheinischen Architektenfamilie symbolisiert das deutsche Schicksal der ersten Jahrhunderthälfte. Das aüßere Geschehen ist in den Ablauf eines einzigen Tages des Jahres 1958 gespannt. Es ist der achtzigste Geburtstag von Heinrich Fähmel, der im Jahre 1907 den Auftrag erhielt, die Abtei St. Anton zu erbauen. Sein Sohn Robert, der jeden Tag von halbzehn bis elf im Hotel Prinz Heinrich Billard spielt, hat in seiner Eigenschaft als Sprengspezialist der Wehrmacht die Abtei in den letzten Kriegstagen zerstört. Der Enkel Joseph wird am Wiederaufbau beteiligt. In den Gesprächen Roberts mit dem Hotelboy, in Rückblenden und Erinnerungen seines Vaters verknüpfen sich Vergangenheit und Gegenwart, werden die Situationen der einzelnen Zeitabschnitte verdeutlicht. Im Mittelpunkt steht dabei der Konflikt zwischen dem selbstständig denkenden und handelnden Einzelgänger und der politisch opportunistischen Mehrheit.

Heinrich Böll über die Entstehungsgeschichte von Billard um halbzehn in dem Interview mit Horst Bienek:

„Die erste Zelle dieses Romans ist die zweite Hälfte des Schlagballkapitels. Und diese Zelle ist entstanden aus einer historischen Begebenheit. Im Jahre 1934, glaube ich, war es, da ließ Göring hier in Köln vier junge Kommunisten durch Handbeil hinrichten. Der Jüngste von ihnen war siebzehn oder gerade achtzehn, so alt wie ich damals war, als ich gerade anfing, mich im Schreiben zu versuchen. Das Ganze war als Kurzgeschichte gedacht, war auch so angelegt, aber ich spürte eben, dass es ein Roman werden müsse. Das Thema hat sich dann verwandelt, vielfach verwandelt, als ich in Genf den Altar der Gebrüder van Eyck sah, in dessen Mitte das Gotteslamm steht. Ich habe den Altar dann innerhalb kürzerer Zeit noch einmal gesehen. Das ist alles, was ich weiß. Der Rest ist ein sehr komplizierter Vorgang wie immer beim Schreiben, wo Bewusstes und Unbewusstes sich ständig mischen in einem ständig wechselnden Mischungsverhältnis. Später dann habe ich diese beiden Anlässe, wenn ich sie so nennen darf, vergessen. Andere Gestalten und Motive wurden mir wichtiger, verloren wieder an Wichtigkeit. Das wechselt mit der Hitze und der notwendigen Abkühlung während des Schreibens und wechselt immer wieder.“

„Es ist eine breit dahinflutende, schmerzlich schöne Elegie vom Leben dieser unserer eigenen Zeit, von Hoffnungen, Leiden und Illusionen. Das Buch hat Reife. Es ist aller Tendenz enthoben. Sein Klang ist voll, sein Sinn ist mild, seine Wahrheit ist entschieden und klar: die Wahrheit des Lamms, das geopfert wird, damit die Welt weiterleben kann.“

Karl Korn

„Wenn die Geschichten von Schicksalen, die um der Wahrheit willen erfunden wurden, noch heutzutage auf die Leser einen Einfluss ausüben können, dann ist wohl der Roman Heinrich Bölls dazu angetan, den Menschen besser zu machen. Was könnte man von einem Moralisten mehr sagen?“

Marcel Reich-Ranicki

„Billard um halbzehn, Bölls vielleicht extremstes Buch, ist der Hilfeschrei eines „Nicht-Versöhnten“ (nicht: eines Unversöhnlichen). Mit rauschhafter Gewalt, rhapsodisch wie Koeppen, anspruchsvoll wie Faulkner, sucht da jemand nach Natur in unnatürlicher Welt, nach Trauer im Zeitalter der Restauration, nach Gelassenheit, die der Verzweiflung fähig ist.“

Joachim Kaiser

Kapitel I

An diesem Morgen war Fähmel zum ersten Mal unhöflich zu ihr, fast grob. Er rief sie gegen halb zwölf an, und schon der Klang seiner Stimme verhieß Unheil; diese Schwingungen waren ihr ungewohnt, und gerade weil seine Worte so korrekt blieben, erschreckte sie der Ton: alle Höflichkeit war in dieser Stimme auf die Formel reduziert, als wenn er ihr statt Wasser H2O angeboten hätte.