Es war spät, als er Dieter Franklins Labor verließ. Mit Ausnahme der zweiten Nachtschicht war so gut wie niemand mehr auf den Beinen. Nachts schien die Station zu groß und gleichzeitig zu klein zu sein — das Echo der Schritte kam wie aus weiter Ferne, doch das Geräusch an sich war flach, eingeengt: ein abgeschlossener Raum. Jede Gasse eine Sackgasse.
Yambuku war ihm nie so verletzlich erschienen.
Seine biologischen Aufzeichnungen lagen unangetastet in seiner Kabine. Er war versucht, sich dorthin zurückzuziehen, doch eine letzte Aufgabe wartete noch auf ihn. Morgen früh kam dieser terrestrische D&P-Kacho an und brauchte ein Quartier. Aber es gab in Yambuku nur eine einzige Kabine, die nicht belegt war, und das war die Kabine, in der Elam Mather gewohnt hatte.
Die Kabine für Avrion Theophilus herzurichten war keine große Arbeit. Niemand auf Isis besaß irgendetwas Materielles. Der Witz war, man kam nach Isis, wie man auf die Welt kam: nackt und bange. Und so ging man auch wieder.
Elam war ganz anders gegangen, aber mitgenommen hatte sie auch nichts. Trotzdem, das Bettzeug musste gewaschen und die Wandschirme mussten geleert werden.
Nicht viel Arbeit, aber Arbeit, die ihm nicht gefiel. Sie durfte nicht delegiert werden. Es war immer der leitende Manager, der sich der Kabine eines Verstorbenen annahm. Er hatte das Gleiche für Mac Feya getan. Jeder von den alten Hasen hier würde das tun — eine von den wenigen Sitten, die das Isis-Projekt hervorgebracht hatte.
Er schloss mit dem Hauptschlüssel auf.
Elams Pultlampe flackerte auf, als er eintrat, dann erwachte ein Wandschirm zum Leben — ein Livebild von Isis, das aus dem Orbit übertragen wurde. Hatte Elam sich vorgestellt, da oben, über der toxischen Biosphäre, in ihrem Wolkenkuckucksheim zu wohnen? Oder hatte sie ganz einfach den Fernblick vorgezogen?
Er schaltete den Schirm ab und löschte Elams Präferenzen. Dann zog er das Bettzeug ab, faltete es zusammen und nahm die Kleiderzuteilung aus dem Regal, alles war aus dem einheitlichen, ultraleichten, aschegrauen Stoff, der von der Erde importiert wurde. Er legte alles vor die Tür, wo ein Roboter es auflesen würde. Elams Wäsche würde frisch und anonym in der Ausgabe des Haushaltssystems landen; irgendwann mochte er selbst auf genau diesem Kopfkissenbezug schlafen.
Schließlich benutzte er seinen Palmtop, um Elams persönliches Schließfach im Zentralspeicher von Yambuku zu öffnen. Mac hatte einen Haufen Memos, Briefe an zu Hause und andere, unleserliche Notizen hinterlassen. Elam hatte besser aufgeräumt; es sah so aus, als gebe es nur Listen, Pläne und Zugangscodes zu löschen…
Doch als er den Löschbefehl gab, meldete sich eine rot markierte Datei.
Der Brief war noch unvollendet und an ihn adressiert.
Tam,
bin momentan über dem Ozean auf dem Weg zu Freeman Li. Wir hatten in letzter Zeit kaum Gelegenheit zu reden. Wir holen das nach, sobald ich zurück bin, ja? Bis dahin ein paar Gedanken.
Du weißt sicher noch, wie ich gesagt habe, du sollst diese Fisher nicht zu nah an dich ranlassen. Vielleicht war das falsch. (Da kannst du mal sehen, was meine mütterlichen Ratschläge wert sind.) Dieses Mädchen ist was Besonderes, zugegeben, aber du musst auch sehen, Tam — dass darin eine Gefahr liegt. Vielleicht sogar eine große Gefahr.
Sie selbst ist natürlich keine Intrigantin, aber sie ist und bleibt ein Werkzeug in irgendeinem komplizierten Machtpoker von Devices & Personnel. Das ist schlimm für sie, weiß Gott, und könnte auch schlimm werden für jemanden, der sie so gern hat wie du. Sei bitte nicht naiv! Der Konzern benutzt Zoe Fisher und ihresgleichen wie unsereins Klosettpapier benutzt. Unser einziger Schutz ist die Entfernung, fragt sich nur, wie lange noch. Isis ist keine Kuiper-Republik; Isis ist Konzernbesitz. Vergiss das nicht.
Avrion Theophilus — der Name erscheint urplötzlich auf einer Frachtliste. Teil eines Plans — oder schlimmer noch: eines fehlgeschlagenen Plans. Er ist mit Vorsicht zu genießen, Tam. Der Einsatz muss schon sehr hoch sein, wenn eine Konzern-Familie einen so kostbaren verwandten auf eine so gefährliche Heise schickt, vielleicht will er sich nur davon überzeugen, dass Zoe ihre Sache gut macht — dass die Außenmontur hält, was sie verspricht — aber das heißt auch, dass es genauso einflussreiche Leute gibt, die wollen, dass die Sache schief geht.
Doch hier ist die wirklich unangenehme Nachricht: Ich glaube, man hat an Zoe herumgepfuscht.
Letzte Nacht, gut eine Stunde nach Mitternacht, fand ich sie im Frachtraum. Sie wähnte sich allein und weinte. Stille, hilflose Krokodilstränen — du weißt schon. Als ich sie fragte, was denn los sei, da wurde sie rot und murmelte etwas von einem Albtraum. Stutzig machte mich, wie sie es sagte: Sie versuchte es herunterzuspielen, wollte mich ganz klar abwimmeln, war aber auch seltsam offenherzig, als sei ein Albtraum eine komplett neue Erfahrung für sie, etwas, das sie nur aus Büchern kannte. Was gut sein kann, wenn man an ihren Werdegang denkt.
Frag dich selbst, Tam: wieso sollte ein perfekt durchreguliertes Retortenbaby wie Zoe Fisher plötzlich unter Albträumen leiden? (Oder sich, so gesehen, verlieben?)
Nachdem ich sie beruhigt und zurück ins Bett gescheucht hatte, weckte ich Shel Kyne. Shel ist ein fähiger Arzt aber hoffnungslos terrestrisch. Er wunderte sich nicht mal, warum ich so viel über Zoes Bioregulation wissen wollte — tischte mir einfach die ganzen Kurven und Tabellen auf, sauer ob der Uhrzeit aber froh, dass man ihn zu Rate zog. (Ich weiß nicht, wie ihr Red Thorns das haltet, aber im Rider-Clan wird die unbefugte Weitergabe patientenbezogener Daten mit der sofortigen Entziehung der Bürgerrechte geahndet. Erdlinge!)
Als Erstes wollte ich wissen, ob emotionale Labilität auf eine Störung des Thymostaten hinweist.
Ja, meinte Shel, das sei gut möglich, obwohl thymostatische Gleichgewichtsstörungen anfangs kaum wahrnehmbar seien; emotionale Unbeständigkeit zeige sich normalerweise erst nach Wochen oder Monaten, nachdem der Thymostat sich abgeschaltet habe.
Also wollte ich wissen, ob es irgendeine Unstimmigkeit mit Zoes Bioregler gebe.
Er lächelte und zuckte die Achseln.
Zoe ist offenbar randvoll mit nagelneuer Bloodware[22], die hauptsächlich in künstlichen Drüsensäcken entsteht, die rings um die Bauchaorta lagern. Diese Apparate sind derart neumodisch, dass Shels Instrumente sie nicht einlesen können, und D&P hat keine Blaupausen geschickt. Shel kann nur eins, nämlich das Vorkommen relevanter Neurotransmitter und chemischer Regulatoren in ihren Stoffwechselprodukten überwachen. Zoes Serotonin-, Noradrenalin- und Substanz-P-Spiegel sehen wohl allesamt ein bisschen seltsam aus und was ihr auch fehlt, sind die meisten normalen Wiederaufnahmehemmer. Aber die Bloodware ist so ungewöhnlich, dass Shel nicht sagen kann, ob das nun Resultate einer funktionierenden oder einer fehlerhaften Regulierung sind.
Shel meinte, wir bekämen doch Gelegenheit, Avrion Theophilus zu fragen. (Ich log, als ich ihm beipflichtete; ich habe ihm auch geraten, den Mund über unser Gespräch zu halten, bis ich mich wieder bei ihm melden würde. Vielleicht wirfst du mal einen Blick in seine allernächsten Berichte an die IOS.)
Was hat das nun zu bedeuten?
Vermutlich, dass ihr Thymostat schweigt. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Lieben. Mit kuiperschen Worten: Sie ist praktisch wie neugeboren. Sie muss mit einem ganzen Rudel an neuen und zwiespältigen Emotionen fertig werden, und sie versteht nicht eine davon. Die Zoe Fisher, in die du dich so unmissverständlich verliebt hast, Tam, ist eine nagelneue Zoe Fisher. Zerbrechlich. Wahrscheinlich verängstigt. Und sehr darauf aus, den Job zu tun, für den sie ausgebildet wurde.