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Walt Gaines, der Bezirkssheriff, trat aus der Hütte, als Lem nah heran war. Gaines war ein Hüne, einen Meter neunzig groß und wenigstens neunzig Kilo schwer, mit enormen Schultern und einem mächtigen Brustkasten. Mit dem maisgelben Haar und den kornblumenblauen Augen hätte er wie ein Kinoheld aussehen können, wenn nicht das derbe Gesicht und die groben Züge gewesen wären. Er war fünfundfünfzig, sah aus wie vierzig und trug sein Haar nur eine Spur länger, als er es während der zwanzig Jahre bei der Marineinfanterie getragen hatte.

Obwohl Lem Johnson Neger war, genauso dunkel wie Walt hellhäutig, nahezu zwanzig Zentimenter kleiner und fünfundzwanzig Kilo leichter als Walt, obwohl aus einer schwarzen Familie der gehobenen Mittelklasse stammend, während Walts Leute weißes Armeleutepack aus Kentucky waren, und obwohl Lem um zehn Jahre jünger war als der Sheriff, waren die beiden Freunde. Mehr als das, Kumpel. Sie spielten zusammen Bridge, gingen zusammen tiefseefischen und genossen es königlich, auf Liegestühlen im Garten des einen oder des anderen zu sitzen, Corona-Bier zu trinken und sämtliche Probleme der Welt zu lösen. Selbst ihre Frauen waren Freundinnen geworden, eine rein zufällige Entwicklung, die nach Walts Meinung >ein Wunder< war, weil, wie er sagte, »die Frau noch nie jemanden gemocht hat, den ich ihr in den letzten zweiunddreißig Jahren vorgestellt habe«.

Für Lem war seine Freundschaft mit Walt Gaines ebenfalls ein Wunder, denn er war nicht der Mann, der leicht Freunde gewann. Er war ein Arbeitstier und hatte einfach nicht die Muße, eine Bekanntschaft zu pflegen und eine länger dauernde Beziehung daraus zu machen. Natürlich hatte es dieser Pflege bei Walt nicht bedurft; sie waren sich bei der ersten Begegnung sympathisch gewesen, hatten ähnliche Ansichten und Gesichtspunkte beim anderen entdeckt. Als sie einander sechs Monate lang kannten, schien es, als wären sie sich seit ihrer Kinderzeit nahegestanden. Lem war ihre Freundschaft fast so wichtig, wie seine Ehe mit Karen. Die Last seines Berufes wäre schwerer zu ertragen gewesen, hätte er nicht gelegentlich bei Walt etwas Dampf ablassen können.

Als jetzt die Rotorblätter des Hubschraubers verstummten, sagte Walt Gaines: »Ich kann mir nicht vorstellen, was euch Feds[1] an einem knorrigen alten Canyonbewohner interessiert.«

»Gut«, sagte Lem. »Erwartet auch keiner von dir, und du willst es auch gar nicht wissen.«

»Jedenfalls hab' ich bestimmt nicht damit gerechnet, daß du selbst kommst. Dachte, du würdest einen deiner Lakaien schicken.«

»NSA-Beamte haben es gar nicht gern, wenn man sie Lakaien nennt«, sagte Lem.

Walt warf Cliff Soames einen Blick zu und meinte: »Aber so behandelt er euch doch, oder? Wie Lakaien?«

»Er ist ein Tyrann«, bestätigte Cliff. Er war einunddreißig, rothaarig und sommersprossig und sah eher aus wie ein beflissener junger Prediger als wie ein Agent der National Security Agency.

»Nun, Cliff«, sagte Walt Caines, »dazu muß man natürlich wissen, wo Lern herkommt. Sein Vater war ein getretener schwarzer Geschäftsmann, der nie mehr als zweihunderttausend im Jahr verdiente. Unterprivilegiert, verstehen Sie? Deshalb bildet Lern sich ein, er muß euch weiße Boys durch Reifen hüpfen lassen, wenn er kann, um all die Jahre der brutalen Unterdrückung auszugleichcn.«

»Er verlangt sogar, daß ich >Massa< zu ihm sage«, grinste Cliff.

»Genauso hab' ich es mir vorgestellt«, sagte Walt.

Lem seufzte und meinte: »Ihr beiden macht mir ungefähr soviel Spaß wie ein Leistenbruch. Wo ist die Leiche?«

»Hier entlang, Massa«, sagte Walt.

Ein warmer Windstoß ließ die Bäume rundum erzittern, in die Stille des Canyons fiel das Wispern des Blattwerks. Der Sheriff führte Lem und Cliff in den ersten der beiden Räume der Hütte.

Lem wußte sofort, weshalb Walt so witzig tat. Der gezwungene Humor war die Reaktion auf das Schreckliche im Inneren der Hütte. Es war, wie wenn man nachts im Friedhof laut lacht, um die Nervosität zu verjagen.

Zwei Lehnsessel waren umgestürzt, die Polsterung aufgeschlitzt. Die Sofakissen waren zerfetzt, der weiße Schaumgummi bloßgelegt. Von einem Büchergestell in der Ecke waren Taschenbücher heruntergefegt, zerrissen und über den ganzen Raum verstreut worden. Glasscherben der großen Fensterscheibe glitzerten wie Edelsteine in all dem Durcheinander.

Und alles, die Wände mit eingeschlossen, war mit Blut bespritzt, auf dem hellen Fichtenholzboden waren dunkle Flekken getrockneten Blutes zu sehen.

Wie ein paar Krähen, die bunte Fäden suchten, um damit ihr Nest herauszuputzen, arbeiteten sich zwei Labortechniker in dunklen Anzügen mit Sorgfalt durch das Chaos. Gelegentlich gab einer von ihnen ein leises, krächzendes Geräusch von sich, zupfte sich irgend etwas mit einer Pinzette und deponierte es in einem Plastikbeutel.

Offensichtlich hatte man die Leiche bereits untersucht und fotografiert, denn sie war in einem undurchsichtigen Plastiksack verstaut, lag jetzt neben der Tür und wartete darauf, zum Fleischerwagen hinausgetragen zu werden.

Lem schaute auf die verschwommen sichtbare Leiche im Sack, die unter dem milchfarbenen Plastik nur undeutlich als menschliche Gestalt zu erkennen war, und sagte: »Wie hieß er denn?«

»Wes Dalberg«, sagte Walt. »Hat hier zehn Jahre oder länger gelebt.«

»Wer hat ihn gefunden?«

»Ein Nachbar.«

»Wann ist er getötet worden?«

»Soweit wir das feststellen können, vor etwa drei Tagen. Vielleicht Dienstag nacht. Wir müssen die Labortests abwarten, um es genau zu wissen. Das Wetter in letzter Zeit war ziemlich warm, und das hat natürlich Einfluß auf den Zersetzungsprozeß.«

Dienstag nacht... Am Dienstagmorgen, noch bevor es dämmerte, war es in Banodyne zu dem Ausbruch gekommen. Es war also durchaus möglich, daß der Outsider bis Dienstag nacht soweit gekommen war.

Lem dachte darüber nach - und erschauerte.

»Ist dir kalt?« fragte Walt sarkastisch.

Lem gab keine Antwort. Sie waren Freunde, und sie dienten beide dem Gesetz, der eine als örtlicher, der andere als Bundesbeamter. Aber in diesem Fall dienten sie einander entgegengesetzten Interessen: Walts Aufgabe war es, die Wahrheit herauszufinden und sie der Öffentlichkeit bekanntzugeben; Lems Aufgabe bestand darin, einen Deckel über den Fall zu stülpen und dafür zu sorgen, daß er draufblieb.

»Hier drin stinkt's wirklich«, meinte Cliff Soames.

»Du hättest das riechen sollen, bevor wir die Leiche in den Sack gesteckt haben«, meinte Walt. »Richtig reif.«

»Nicht nur... Zersetzung«, sagte Cliff.

»Nein«, sagte Walt und deutete auf ein paar Flecken, die nicht von Blut herrührten. »Auch Urin und Kot.«

»Vom Opfer?«

»Glaub' ich nicht«, sagte Walt.

»Habt ihr schon erste Tests gemacht?« fragte Lem, bemüht, nicht besorgt zu klingen. »Mikroskopische Untersuchungen am Tatort, meine ich.«

»Fehlanzeige. Wir nehmen die Proben mit ins Labor. Wir glauben, es stammt von dem, was da durchs Fenster reingekommen ist.«

Lem hob den Blick von dem Plastiksack mit der Leiche und sagte: »Du meinst den Mann, der Dalberg umgebracht hat?«

»Das war kein Mann«, sagte Walt, »und ich schätze, das weißt du.«

»Kein Mann?« sagte Lem.

»Zumindest kein Mann wie du oder ich.«

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1

Fed: Slangbezeichnung für Beamte einer Bundesbehörde (>Federal<). -Anm. d. Ü.