Lem gab keine Antwort. Allein, daß er sich bereit erklärt hatte, zuzuhören, tat ihm bereits leid. Außerdem würde er nicht direkt die Ermittlungen zur Aufklärung der Morde an den zwei Wissenschaftlern leiten, hinter denen beinahe mit Sicherheit sowjetische Drahtzieher standen. Diese Aufgabe hatte er an andere delegiert, um sich ganz darauf konzentrieren zu können, den Hund und den Outsider zu finden.
Die Sonne färbte sich orangerot. Die Fenster der Hütte glühten im Widerschein des verblassenden Feuers.
Walt sagte. »Okay, dann wäre da noch Dr. Davis Weatherby aus Corona Del Mar. Seit Dienstag verschwunden. Heute morgen hat Weatherbys Bruder die Leiche des Doktors im Kofferraum seines Wagens gefunden. Kaum sind die Pathologen der örtlichen Behörde dort eingetroffen, als auch schon die NSA-Agenten auftauchen.«
Die Schnelligkeit, mit der der Sheriff offensichtlich Informationen sammelte, ordnete und verarbeitete, die aus verschiedenen Gemeinden stammten, die sich nicht in seinem Bezirk befanden und daher auch nicht in seinem Zuständigkeitsbereich lagen, war etwas zermürbend.
Walt grinste, aber in seinem Grinsen war nicht die leiseste Spur von Humor. »Hast wohl nicht erwartet, daß ich diese Zusammenhänge herstelle, hm? Alles das steht in verschiedenen Polizeiberichten. Aber soweit ich das sehe, ist dieser Bezirk eine einzige Großstadt mit zwei Millionen Menschen, und deshalb arbeite ich mit sämtlichen Revieren eng zusammen.« »Worauf willst du hinaus?«
»Ich will darauf hinaus, daß es höchst erstaunlich ist, wenn an einem Tag sechs angesehene Bürger ermordet werden. Schließlich ist das hier Orange County, und nicht Los Angeles. Und noch erstaunlicher ist, daß alle sechs Todesfälle in Zusammenhang stehen mit dringlichen Angelegenheiten der nationalen Sicherheit. Das erweckt meine Neugierde. Ich fange also an, mich ein wenig um den Hintergrund dieser Leute zu kümmern, suche nach etwas, das sie miteinander verbindet...«
»Walt, um Gottes willen!«
»... und entdecke, daß sie alle für etwas arbeiten - oder gearbeitet haben -, das sich Banodyne Laboratories nennt.«
Lem war nicht böse. Er konnte Walt nicht böse sein - sie standen sich schließlich näher als Brüder. Aber die Gerissenheit, die er jetzt an den Tag legte, konnte einen verrückt machen. Lem sagte: »Hör zu, du hast kein Recht, Ermittlungen anzustellen.«
»Ich bin Sheriff, das solltest du nicht vergessen.«
»Aber keiner dieser Morde - mit Ausnahme dieses hier an Dalberg - fällt in deine Zuständigkeit. So fängt's an«, sagte Lem. »Und selbst wenn das der Fall wäre... sobald die NSA sich einschaltet, hast du nicht das Recht, deine Ermittlungen weiterzuführen. Tatsächlich verbietet dir das Gesetz das sogar ausdrücklich.«
Walt tat, als hätte er nicht gehört, und fuhr fort: »Also schlage ich nach, was Banodyne ist, woran sie arbeiten, und entdecke, daß sie sich mit Gentechnologie befassen ...«
»Du bist unverbesserlich.«
»Nichts deutet darauf hin, daß Banodyne mit Verteidigungsprojekten befaßt ist, aber das hat nichts zu bedeuten. Schließlich könnten das ja auch blinde Verträge sein, Projekte, die so geheim sind, daß die Mittel dafür nicht öffentlich ausgewiesen werden.«
»Herr Jesus!« sagte Lem gereizt. »Verstehst du denn wirklich nicht, wie verdammt gemein wir werden können, wenn wir die nationalen Sicherheitsgesetze auf unserer Seite haben?«
»Ich stelle im Augenblick lediglich Spekulationen an«, sagte Walt.
»Du wirst deinen >Honky[2]<-Arsch gleich in eine Gefängniszelle hineinspekulieren.«
»Augenblick mal, Lemuel. Wir wollen hier keine Rassenauseinandersetzung führen.«
»Du bist unverbesserlich.«
»Jaah, und du fängst an, dich zu wiederholen. Jedenfalls hab' ich gründlich nachgedacht und mir zusammengereimt, daß die Morde an diesen Leuten, die bei Banodyne gearbeitet haben, irgendwie mit der Suchaktion am Mittwoch und Donnerstag zusammenhängen. Und mit dem Mord an Wesley Dalberg.«
»Zwischen dem Mord an Dalberg und den anderen Morden gibt es keine Ähnlichkeiten.«
»Natürlich nicht. Das war nicht derselbe Killer. Das seh' ich. Die Yarbecks, die Hudstons und Weatherby sind von einem Profi umgelegt worden, während der arme Wes Dalberg in Stücke gerissen wurde. Trotzdem gibt es eine Verbindung, weiß Gott, oder du würdest dich nicht für die Geschichte interessieren. Und die Verbindung muß Banodyne sein.«
Die Sonne ging unter. Die Schatten liefen ineinander, verdichteten sich.
Walt fuhr fort: »Ich denk' es mir folgendermaßen: Die haben bei Banodyne an irgendeinem neuen Bazillus gearbeitet, einer genetisch veränderten Bakterie, und die ist ihnen entkommen, hat jemanden angesteckt, aber ihn nicht bloß krank gemacht. Sie hat sein Gehirn ernstlich beschädigt und ihn in einen Wilden oder so etwas verwandelt... «
»Ein Dr. Jekyll für das High-Tech-Zeitalter?« unterbrach Lem ihn sarkastisch.
»... und er ist aus dem Labor entkommen, ehe jemand wußte, was ihm widerfahren war, in die Vorberge geflohen, kam hierher und griff Dalberg an.«
»Du siehst dir wohl eine Menge schlechter Horrorfilme an, oder?«
»Was Yarbeck und die anderen angeht: Die sind vielleicht eliminiert worden, weil sie wußten, was passiert war, und wegen der Folgen solche Angst hatten, daß sie vorhatten, damit an die Öffentlichkeit zu gehen.«
Irgendwo tief im in die Dämmerung gehüllten Canyon erhob sich ein leises, wehklagendes Heulen. Wahrscheinlich bloß ein Kojote.
Lem wollte fort von hier, raus aus dem Wald. Aber er mußte sich mit Walt Gaines auseinandersetzen, mußte den Sheriff von seinen Nachforschungen und Mutmaßungen abbringen.
»Jetzt wollen wir einmal etwas klarstellen, Walt. Behauptest du allen Ernstes, die Regierung der Vereinigten Staaten hätte ihre eigenen Wissenschaftler umbringen lassen, um sie zum Schweigen zu bringen?«
Walt runzelte die Stirn. Er wußte, wie unwahrscheinlich -wenn nicht unmöglich - dieses Szenario war.
Lem sagte: »Ist das Leben wirklich bloß ein Ludlum-Ro-man? Wir bringen unsere eigenen Leute um? Ist das der Paranoia-Monat der Nation oder so was? Glaubst du den Scheiß wirklich?«
»Nein«, gab Walt zu.
»Und wie könnte Dalbergs Mörder ein verseuchter Wissenschaftler mit einem Hirnschaden sein? Ich meine, Herrgott, du selbst hast doch gesagt, daß irgendein Tier Dalberg getötet hat, etwas mit Klauen und scharfen Zähnen.«
»Okay, okay, dann hab' ich das Puzzle eben noch nicht richtig zusammengesetzt. Jedenfalls nicht ganz. Aber ich bin sicher, daß alles irgendwie mit Banodyne zusammenhängt. Ich bin doch nicht ganz auf der falschen Spur - oder?«
»Doch, das bist du«, sagte Lem. »Völlig.«
»Wirklich?«
»Wirklich.« Lem belastete es, daß er Walt anlügen und manipulieren mußte, aber er tat es trotzdem. »Ich sollte dir nicht einmal sagen, daß du hinter der falschen Spur herrennst. Aber als Freund schulde ich dir wohl soviel.«
Weitere wilde Stimmen hatten sich dem unheimlichen Heulen in den Wäldern angeschlossen und bestätigten damit, daß die Schreie nur von Kojoten kamen, und doch ließ der Lärm es
Lem Johnson eisig über den Rücken laufen, und es drängte ihn, diesen Ort zu verlassen.