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Neds Tür stand offen. Ich sah hinein und entdeckte ihn, wie er ganz zusammengesunken dasaß und den Kopf in den Händen hielt. Irgendwie spürte er meine Anwesenheit. Er blickte rasch hoch, zog eine andere Miene auf, verbannte den flüchtigen Blick der Verzweiflung oder Niedergeschlagenheit und ersetzte ihn durch einen vorsichtig sanften Ausdruck. Aber seine Augen glänzten vor Angespanntheit, und ich meinte, das Funkeln beginnender Tränen zu sehen.

„Du hast es also auch gefühlt?“ fragte ich.

„Was gefühlt?“ Ziemlich trotzig.

„Nichts, gar nichts.“ Ein nichtiges Achselzucken. Wie kannst du dir dessen sicher sein? Wir spielten nur miteinander, gaben nur etwas vor. Aber der Zweifel war an diesem Morgen allgegenwärtig. Eine ansteckende Krankheit hatte uns beide befallen. Wie sicher bist du dir, daß es möglich ist, das zu erlangen, wonach du suchst? Ich spürte, wie eine Mauer zwischen ihm und mir gezogen wurde, die mich davon abhielt, ihm von der Furcht zu berichten, die ich empfunden hatte, oder davon, ihn zu fragen, warum er so zerrüttet wirkte. Ich verließ ihn und ging erst in mein Zimmer, um zu baden, und später zum Frühstück. Ned und ich saßen zusammen, aber wir sprachen kaum ein Wort miteinander. Unsere allmorgendliche Sitzung mit Bruder Antony stand als nächstes auf dem Programm. Aber irgendwie hatte ich das Verlangen, nicht hinzugehen. Und als ich mit dem Essen fertig war, ging ich statt dessen auf mein Zimmer. Glaubst du wirklich, daß du hier etwas gefunden hast? Völlig verwirrt kniete ich vor dem großen Mosaik-Totenschädel an meiner Wand nieder und starrte ihn mit unbewegten Augen an, absorbierte ihn, zwang die Myriaden kleiner Teilchen aus Obsidian und Türkis, aus Jade und Muscheln zu schmelzen, zu zerfließen und ihre Form zu ändern, so lange, bis dieser Totenschädel vor meinen Augen Fleisch wurde und ich ein Gesicht über diesen dürren Knochen sehen konnte; und noch ein Gesicht, und noch eins, eine ganze Reihe von Gesichtern, eine flackernde, ständig wechselnde Ansammlung von Gesichtern. Jetzt sah ich Timothy, und jetzt stülpte sich der Schädel die feingeschnittenen Züge Olivers über, und jetzt sah ich meinen Vater, der sich rasch in meine Mutter verwandelte. Wie kannst du dir dessen sicher sein? Nun sah Bruder Antony von der Wand auf mich herunter, sprach mich in einer unbekannten Sprache an und wurde zu Bruder Miklos, der etwas von verlorenen Kontinenten und vergessenen Höhlen murmelte. Wie sicher bist du dir, daß es möglich ist, das zu erlangen, wonach du strebst? Jetzt sah ich ein schlankes, schüchternes Mädchen mit einer großen Nase, die ich kurz in New York geliebt hatte, und ich mußte angestrengt wegen ihrem Namen überlegen — Mickey? Mickey Bernstein? —, und ich sagte: „Hallo, ich bin nach Arizona gefahren, genau wie ich dir gesagt habe.“ Aber sie gab mir keine Antwort. Ich glaube, sie hat vergessen, wer ich bin. Sie verschwand, und an ihre Stelle trat das unfreundliche Mädchen aus dem Motel in Oklahoma und dann der schwerbrüstige Geist, der an mir vorbeigerauscht war, in jener Nacht in Chikago. Ich hörte das schrille Lachen wieder aus dem Abgrund aufsteigen, und ich fragte mich, ob mir jetzt wieder so ein Moment verheerender Zweifel bevorstand. Glaubst du wirklich, daß du hier etwas gewonnen hast? Plötzlich spähte Dr. Nicolescu auf mich herunter, ein graues Gesicht, traurige Augen, kopfschüttelnd beschuldigte er mich in seiner milden, bescheidenen Art, daß ich ihn so wenig freundlich behandelt hatte. Ich machte keine Ausflüchte, noch wimmerte ich oder wandte meinen Blick ab, denn die Schuld war von mir genommen. Ich hielt meine müden Augen auf und starrte ihn an, bis er verschwunden war. Wie sicher bist du dir, daß es möglich ist, das zu erlangen, wonach du suchst? Neds Gesicht tauchte auf. Timothys wieder. Olivers. Und dann mein eigenes, das eigene Gesicht von Eli, dem eigentlichen Anstifter der Reise, dem hilflosen Führer des Fruchtbodens. Glaubst du wirklich, daß du hier etwas gewonnen hast? Ich studierte mein Gesicht, mißbilligte die unschönen Stellen, versuchte die Kontrolle darüber zu erlangen, es zum plumpen, teigigen Gesicht der Kindheit zurückzuentwickeln — dann ließ ich es sich wieder nach vorn in der Zeit verändern bis zur Gegenwart, zum neuen, ungewohnten Eli aus dem Schädelhaus, und ging noch darüber hinaus bis zu einem Eli, den ich noch nie zuvor gesehen hatte; ein Eli, der noch kommen würde, zeitlos, stumpf, phlegmatisch, ein Eli, der zum Bruder geworden war, ein Gesicht aus feinem Leder, ein Gesicht aus Stein. Während ich diesen Eli begutachtete, hörte ich den Versucher wieder beharrlich seine Fragen stellen: Wie kannst du dir dessen sicher sein? Wie kannst du dir dessen sicher sein? Wie kannst du dir dessen sicher sein? Er fragte immer wieder, hämmerte mir die Fragen ein, bis ihre Echos in ein einziges formloses Brummen zusammenflossen. Ich hatte keine Antwort für ihn und fand mich selbst allein auf einem dunklen, polaren Plateau wieder, klammerte mich an ein Universum, aus dem die Götter geflohen waren. Und ich dachte: Ich habe das Blut meiner Freunde vergossen, doch wozu? Doch wozu? Aber dann kehrte die Stärke zu mir zurück, und ich brüllte Ihm meine Antwort in Seinen brummenden Spott hinein, schrie, daß ich wieder zum Glauben gefunden hätte. Ich trat sicher auf, weil ich wußte, daß ich mir ganz sicher war. „Ich glaube! Ich glaube! Ich mache Dir Deinen Sieg streitig!“ Und ich zeigte mir in meiner Vorstellung, wie ich durch die strahlenden Straßen weit entfernter Morgen ging, auf dem Boden fremder Welten schritt, zeigte mir selbst einen ewigen Eli, der den Strom der Jahre umschloß. Und ich lachte, und Er lachte auch. Und Sein Lachen drohte mein Lachen zu verschlingen. Aber mein Glaube geriet nicht ins Wanken, und schließlich schwieg Er und erlaubte mir damit, als letzter zu lachen.

Dann fand ich mich vor dem vertrauten Mosaikschädel sitzend wieder, mit krächzender Kehle und zitternd. Es gab keine weiteren Metamorphosen. Die Zeit der Vision war vorüber. Ich stand auf, verließ mein Zimmer und lief eilig den Korridor hinunter, bis zu jenem Teil des Gebäudes, wo die nackten Balken allein gegen den offenen Himmel standen. Als ich aufsah, entdeckte ich einen riesigen Falken über mir, der in weiter Ferne seine Kreise zog. Dunkel hob er sich gegen die grelle, unvermischte Blauheit des Himmels ab. Falke, du wirst sterben, und ich werde leben. Daran zweifle ich keine Sekunde. Ich lief weiter um eine Ecke, bis ich in den Raum kam, wo unsere Treffen mit Bruder Antony stattfanden. Der Bruder und Ned waren bereits anwesend, und offensichtlich warteten sie auf mich; denn der Anhänger des Bruders hing noch um seinen Hals. Ned lächelte mich an, und Bruder Antony nickte. Ich verstehe, schien jeder von ihnen zu sagen. Ich verstehe. Solche Stürme kommen vor. Ich kniete mich neben Ned hin. Bruder Antony zog den Anhänger ab und legte den kleinen Jadeschädel vor uns auf den Boden. Das ewige Leben gewähren wir dir. „Laßt uns die innere Vision auf das Symbol richten, das wir hier sehen“, sagte Bruder Antony sanft. Ja. Ja. Freudig, erwartungsvoll und ohne Zweifel ergab ich mich erneut dem Schädel und seinen Hütern.