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Damit schritt Caramon vorwärts und betrat den Eichenwald von Shoikan.

Sofort wurde er in eine immerwährende Dunkelheit getaucht. Es war wie damals im Turm, als Crysanias Zauber ihn blind gemacht hatte. Aber dieses Mal war er allein. Panik überfiel ihn. In dieser Dunkelheit war Leben! Entsetzliches, unheiliges Leben, das überhaupt kein Leben war, sondern lebender Tod... Caramons Muskeln wurden schwach. Er fiel auf Hände und Knie und schluchzte und bebte vor entsetzlicher Angst.

»Du gehörst uns!« wisperten sanfte, zischende Stimmen. »Dein Blut, deine Wärme, dein Leben! Gehört uns! Uns! Komm näher! Bring uns dein süßes Blut, dein warmes Fleisch! Wir sind kalt, kalt, kalt, so unerträglich kalt. Komm näher, komm näher!«

Caramon wurde von Angst überflutet. Er brauchte sich nur umzudrehen und zu rennen, und er würde entkommen... »Aber nein«, keuchte er in der zischenden, erdrückenden Dunkelheit. »Ich muß Raistlin aufhalten! Ich muß... weiter... gehen.«

Zum ersten Mal in seinem Leben griff Caramon tief in sein Inneres und fand den gleichen unbeugsamen Willen, mit dem sein Zwillingsbruder Zerbrechlichkeit und Schmerz und sogar den Tod selbst überwältigen konnte, um sein Ziel zu erreichen. Er biß seine Zähne zusammen. Obwohl er unfähig war zu stehen, war er dennoch entschlossen, sich weiterzubewegen, und kroch auf Händen und Knien durch den Schmutz.

Seine Anstrengung war heldenhaft und mutig, aber er kam nicht weit. Als er in die Dunkelheit starrte, sah er mit lähmender Faszination, wie eine fleischlose Hand durch den Boden hochgriff. Finger, eisig und glatt wie Marmor, schlossen sich um seine Hand und begannen, ihn nach unten zu ziehen. Verzweifelt versuchte er sich zu befreien, aber andere Hände griffen nach ihm, ihre Nägel gruben sich in sein Fleisch. Er spürte, wie sie ihn auszusaugen begannen. Die zischenden Stimmen flüsterten in seinen Ohren, Lippen aus Knochen drückten sich gegen sein Fleisch. Die Kälte ließ sein Herz gefrieren.

»Ich habe versagt...«

»Caramon«, rief eine besorgte Stimme.

Caramon bewegte sich leicht.

»Caramon?« Dann: »Tanis, dort ist er!«

»Den Göttern sei Dank!«

Caramon öffnete seine Augen. Als er aufschaute, starrte er in das Gesicht des bärtigen Halb-Elfen, der mit einem Ausdruck der Erleichterung, in die sich Verwirrung, Staunen und Bewunderung mischte, zu ihm herabschaute.

»Tanis!« Caramon setzte sich benommen auf. Er war immer noch gelähmt vor Angst, nahm seinen Freund in seine starken Arme und hielt ihn fest. Er schluchzte vor Erleichterung.

»Mein Freund!« sagte Tanis, und dann wurde er von seinen eigenen Tränen zum Schweigen gebracht, die ihn fast erstickten.

»Bist du in Ordnung, Caramon?« fragte Tolpan.

Der große Mann holte zitternd Luft. »Ja«, sagte er und legte seinen Kopf in seine zitternden Hände. »Ich glaube ja.«

»Das war das Mutigste, was ich je bei einem Mann gesehen habe«, erklärte Tanis feierlich und lehnte sich zurück, um sich auf seine Fersen stützen zu können, während er Caramon anstarrte. »Das Mutigste... und das Dümmste.«

Caramon errötete. »Ja«, murmelte er, »na, du kennst mich doch.«

»Früher«, sagte Tanis und kratzte sich am Bart. Sein Blick registrierte die hervorragende Verfassung des Mannes, seine bronzen getönte Haut, den Ausdruck ruhiger, fester Entschlossenheit. »Verdammt, Caramon! Vor einem Monat bist du vor meinen Füßen stinkbesoffen ohnmächtig geworden! Dein Bauch hing praktisch über dem Boden! Und jetzt...«

»Dazwischen liegen Jahre, Tanis«, unterbrach ihn Caramon und zog sich mit Tolpans Hilfe langsam auf die Füße. »Das ist alles, was ich dir erzählen kann. Aber was ist passiert? Wie bin ich aus diesem entsetzlichen Ort herausgekommen?« Er sah sich um. Die Schatten der Bäume waren weit entfernt, aber trotzdem konnte er ein Schaudern nicht zurückhalten.

»Ich habe dich gefunden«, sagte Tanis und richtete sich ebenfalls auf. »Sie – diese Dinger – haben dich nach unten gezerrt. Du hättest eine unbehagliche Ruhestätte gefunden, mein Freund.«

»Wie bist du hierhergekommen?«

»Damit«, antwortete Tanis lächelnd und hielt ein silbernes Armband hoch.

»Damit bist du hereingekommen? Vielleicht kann man damit...«

»Nein, Caramon«, unterbrach ihn Tanis und steckte das Armband mit einem Seitenblick auf Tolpan, der eine äußerst unschuldige Miene aufgesetzt hatte, sorgfältig wieder in seinen Gürtel zurück. »Seine Magie war kaum stark genug, mich nur zum Rand der verfluchten Bäume zu bringen. Ich konnte schon dort spüren, wie seine Macht nachließ...«

Der Hoffnungsfunke in Caramons Augen verschwand. »Ich habe auch unser magisches Gerät ausprobiert«, sagte er dann und sah Tolpan an. »Es hat ebenfalls nicht funktioniert. Aber ich hatte das eigentlich auch nicht erwartet. Es hat uns nicht einmal durch den Wald von Wayreth gebracht. Aber ich mußte es versuchen. Mir – mir ist es nicht einmal gelungen, es zu verwandeln. Es zerbrach fast in meinen Händen, darum habe ich es bei einem Versuch belassen.« Er schwieg einen Moment, dann stieß er mit verzweifelter Stimme hervor: »Tanis, ich muß den Turm erreichen!« Seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich kann es jetzt nicht erklären, aber ich habe in die Zukunft gesehen, Tanis! Ich muß durch das Portal gehen und Raistlin aufhalten. Ich bin der einzige, der das kann!«

Verblüfft legte Tanis eine Hand auf die Schulter des großen Mannes und beruhigte ihn. »Das hat mir Tolpan erzählt – jedenfalls so etwas Ähnliches. Aber Caramon, Dalamar ist dort... und... wie, im Namen der Götter, willst du überhaupt in das Portal gelangen?«

»Tanis«, sagte Caramon und sah seinen Freund mit einem derart ernsten und entschlossenen Ausdruck an, daß der Halb-Elf vor Verwunderung blinzelte, »du kannst es nicht verstehen, und für Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Aber du mußt mir glauben. Ich muß in diesen Turm!«

»Du hast recht«, sagte Tanis, nachdem er Caramon voll sprachloser Verwunderung angestarrt hatte. »Ich verstehe es nicht. Aber ich helfe dir, wo ich kann, wenn das überhaupt möglich ist.«

Caramon seufzte tief auf, ließ seinen Kopf hängen, und seine Schultern sackten zusammen. »Ich danke dir, mein Freund«, sagte er schlicht. »Ich war die ganze Zeit so allein. Wenn Tolpan nicht gewesen wäre...«

Er sah zu dem Kender hinüber, aber Tolpan hörte nicht zu. Seine Aufmerksamkeit war durch die fliegende Zitadelle gefesselt, die immer noch über den Stadtmauern schwebte. Der Kampf tobte im Himmel um sie herum, zwischen den Drachen und unten auf dem Boden, wie man aus den dichten Rauchsäulen, die aus dem südlichen Teil der Stadt emporstiegen, den Schreien, dem Zusammenprallen von Waffen und dem Aufschlagen der Pferdehufe entnehmen konnte.

»Ich wette, man könnte mit der Zitadelle zum Turm fliegen«, sagte Tolpan, der sie mit Interesse anstarrte. »Zisch! Direkt über den Eichenwald. Immerhin ist ihre Magie böse, und die Magie des Eichenwaldes ist böse, und sie ist ganz schön groß – die Magie der Zitadelle meine ich, nicht die des Waldes. Es würde wahrscheinlich eine Menge Magie in Anspruch nehmen, um sie aufzuhalten und...«

»Tolpan!«

Der Kender drehte sich zu Caramon und Tanis um, die ihn anstarrten.

»Was?« schrie er, ohne eine Bemerkung abzuwarten. »Ich habe es nicht getan! Es ist nicht mein Fehler...«

»Wenn wir nur dort hoch kämen!« Tanis starrte auf die Zitadelle.

»Das magische Gerät!« rief Caramon aufgeregt und fischte es aus einer Innentasche des Hemdes hervor, das er unter seiner Rüstung trug. »Es kann uns dorthin befördern!«

»Uns wohin befördern?« Tolpan durchschaute plötzlich, daß etwas vor sich ging. »Uns befördern...« – er folgte Tanis’ Blick – »dorthin? Dorthin?« Die Augen des Kenders leuchteten auf wie zwei helle Sterne. »Wirklich? Ehrlich? Zur fliegenden Zitadelle? Das ist ja wunderbar! Ich bin bereit. Laßt uns aufbrechen!« Sein Blick glitt zum magischen Gerät, das Caramon in seiner Hand hielt. »Aber es funktioniert nur mit zwei Leuten, Caramon. Wie soll denn Tanis hochkommen?«