Dieser Trick war nun, da er ihn nicht mehr beeindruckte, ein vertrautes Phänomen. Es waren eher die kleinen Details, die ihn faszinierten. Zum Beispiel war jedes winzige Partikel organischer Materie von der Pizzaverpackung entfernt worden, doch der Karton selbst stand immer noch aufgeklappt mitten auf dem Tisch. Es waren Entscheidungen getroffen worden: Das ist Abfall und das nicht. Es waren keine einfachen mechanischen Entscheidungen. Die Lebensmittel im Kühlschrank wurden niemals angerührt. Ungeöffnete Pakete waren ebenfalls ausgenommen. Dahinter steckte eine Logik. Ziemlich simpel und sich ständig wiederholend, aber gleichzeitig kompliziert und merkwürdig. Eine Hausangestellte hätte den leeren Karton weggeräumt. Ein Roboter tat das nicht. Aber einen Roboter würde es auch nicht stören, wenn er bei der Tätigkeit überrascht würde; ein Roboter würde nicht bis zu den frühen Morgenstunden warten.
Der Videorekorder lief noch. Es dauerte noch einige Minuten bis acht Uhr. Tom beugte sich vor, griff an der Kameraoptik vorbei und schaltete das Gerät ab.
Er holte die Kassette heraus und stellte fest, dass seine Hand zitterte. Er brauchte ganze fünfzehn Minuten, um den Videorekorder an seinen Fernseher anzuschließen… und eine weitere Minute, um das Band zurückzuspulen.
Er schaltete den Fernseher ein, und als der Schirm sich erhellte, betätigte er die Playtaste des Rekorders. Ein Bild entstand und stabilisierte sich — die Küche, die durch die statischen Kameraposition fremd und steril wirkte. Die Zahlen am oberen Bildschirm gaben die Uhrzeit an, 12:01, 12:02 — er war um diese Zeit immer noch wach gewesen, und als er den Ton etwas lauter drehte, konnte er im Hintergrund die Johnny-Carson-Show hören. Irgendwo hinter dem Bild auf dem Schirm saß er in seinem Bademantel und verfolgte die Tonight-Show. Es entstand eine Art Zeitschleife — aber darüber wussten sie sicherlich genau Bescheid.
Das war ein weiterer phantomhafter Gedanke, unerwünscht und absonderlich. Er schüttelte ihn ab.
Er drückte auf die Taste für den schnellen Vorlauf.
Ein Balken wanderte von unten nach oben über den Schirm; das Bild flackerte. Die Minuten huschten so schnell vorbei, dass die Anzeige kaum lesbar war. Aber es war noch immer die gleiche, unaufgeräumte Küche, die er am Abend vorher zurückgelassen hatte.
1:00 Uhr nachts flackerte vorbei.
2:00 Uhr.
3:00 Uhr. Nichts passierte. Dann…
3:45 Uhr.
Er drückte auf die Pausetaste, zu spät, und ließ das Band zurücklaufen.
3:40:01.
3:39:10.
3:38:27.
Um genau 3:37:16 Uhr morgens war das Licht in der Küche erloschen.
»Verdammt noch mal!«, sagte Tom.
Die Kamera war so konstruiert, dass sie bei normaler Zimmerbeleuchtung, aber nicht bei absoluter Dunkelheit funktionierte. Der Bildschirm zeigte eine graue, undurchdringliche Leere. Es war so offensichtlich, dass es wehtat. Sie hatten, verdammt noch mal, das Licht ausgeknipst.
Er drückte auf die Rückspultaste und sah sich die Sequenz in Normalzeit an. Aber es gab nichts zu sehen, nur das statische Bild… und, ganz schwach, das Geräusch des umgelegten Schalters.
Klick.
Dunkelheit.
Und im Hintergrund… verborgen im Bandrauschen, flüchtig und kaum hörbar… etwas, das ihr Geräusch hätte sein können.
Ein chitinöses Flüstern. Das Scharren metallischer Wimpern auf kaltem Linoleum. Das Geräusch einer Rasierklinge, die über eine Feder gleitet.
Er versuchte noch nicht einmal, Archer anzurufen. Es war schon spät. Er schloss die Haustür ab und stieg in seinen Wagen.
Das Haus zu verlassen war genauso, als schüttle er den Einfluss eines langen hypnotischen Traums ab. Er lauerte am Rand seiner Wahrnehmung, und er beeinflusste seine Entscheidungen. Weil er sich verspätet hatte, versuchte er sein Glück mit einer Abkürzung durch Belltower. Doch dabei musste er feststellen, dass die Durchgangsstraße, die er in Erinnerung hatte (die Newcastle hinunter bis zur Brierley), verbreitert worden war und zum Highway abzweigte. Er war bisher noch nie dort entlanggefahren, und der Abstecher brachte ihn durcheinander. Es war eine Reise durch Altbekanntes hin zu etwas völlig Neuem. Da war die Sea View Elementary auf dem grünen Hügel und die Highschool eine Viertelmeile weiter südlich, einander ähnliche Gebäude aus lachsfarbenem Klinker, so greifbar und klar in der Erinnerung, dass es ihn nicht überrascht hätte, den neunjährigen Doug Archer herausrennen zu sehen, um seinen Wagen mit einer Salve Steine einzudecken. Aber der Zeitungskiosk war mittlerweile eine Videospielhölle, und wo Woolworth’s einst gewesen war, befand sich jetzt ein Cineplex. Schon wieder hatte sich die Welt verändert, während er ihr den Rücken zugewandt hatte.
Sie war verfallen, hätte sein Vater vielleicht gesagt. Wie die Erde selbst, hätte Barbara ihn erinnert. Schmutz erfüllte die Atmosphäre und schmolz die Polkappen. Barbara war einer der wenigen Menschen in Toms Umgebung, die vom Vorhandensein des Treibhauseffekts überzeugt waren und gleichzeitig glaubten, dass er aufgehalten werden konnte. Es war das labile Gleichgewicht des Aktivisten. Gestörte Thermodynamik, hätte sein Vater ihr erklären können. Man kann einen Tod aufschieben, aber man kann einen Menschen nicht unsterblich machen. Das Gleiche galt sicherlich auch für einen Planeten. Er wurde durch den Gebrauch nicht besser. Dinge verfallen. Der Beweis dafür war ringsum zu erkennen. Der Beweis war sein eigenes Leben.
Das mag ja sein, hätte Barbara erwidert, aber wir können wenigstens kämpfend untergehen. Sie hatte daran geglaubt, dass halbe Sachen immer noch besser waren als gar keine; dass sogar eine unwirksame Moral im Jahrzehnt der Reaganomics, der Entwurzelten und der Videokirche nützlich war. Ihre Stimme war in seiner Erinnerung laut und deutlich zu vernehmen.
Sie war mein Gewissen, dachte Tom.
Aber die Moral — die Moral der Waffenforschung oder die Moral des Verkaufens von Automobilen — entwand sich immer wieder seinem Zugriff. Er hatte sich um zwanzig Minuten verspätet, als er im Laden ankam, aber keine Käufer waren zu sehen, und niemand schien auf die Uhrzeit zu achten. Die Verkäufer umringten den Cola-Automaten und erzählten sich Witze. Tom hatte die Stempeluhr bedient und stand nun hilflos auf dem Gelände herum und sah den vorbeirasenden Autos nach — während er über Barbara und über das Haus nachdachte —, als Billy Klein, der Geschäftsführer, sich ihm von hinten näherte und ihm einen Arm um die Schultern legte. Klein war am ganzen Körper breit, breitschultrig und breithüftig und mit einem breitflächigen Gesicht. Sein Lächeln signalisierte raubtierhafte Energie und automatische, falsche Herzlichkeit — ein durch und durch fleischfressendes Grinsen. Tom wandte den Kopf und atmete einen Schwall mit Pfefferminz gewürzten Atems ein. »Kommen Sie mit«, sagte Klein. »Ich zeige Ihnen mal, was ich mit Verkaufen wirklich meine.«
Es war das erste Mal seit seinem Einstellungsgespräch, dass er Kleins Heiligtum betreten durfte, einen rundum verglasten Raum, von dem aus man in drei Verkaufsbüros schauen konnte, wo Verträge ausgehandelt wurden. Tom nahm nervös auf dem Sessel Platz, den Klein das Käuferbänkchen nannte. Er war einige Zentimeter niedriger als ein gewöhnlicher Bürosessel. Schwierige Kunden wurden oft an Klein weitergeleitet, der das Gefühl hatte, er ziehe einen Nutzen aus dem psychologischen Vorteil, von oben auf seine Opfer hinabzustarren. »Seltsam, aber es funktioniert. Die Verkäufer reden mich mit ›Sir‹ an und machen sich fast in die Hosen, wenn sie sich unterwürfig verneigend aus dem Raum entfernen. Der Kunde schaut hoch und sieht mich, wie ich ihn stirnrunzelnd betrachte…« Er runzelte die Stirn. »Wie sehe ich aus?«