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»Nichts«, erwiderte Tom.

»Nichts? Nada? Null?«

»Überhaupt nichts. Sehr peinlich für mich. Sehen Sie, es tut mir leid, dass ich Sie in die Sache mit hineingezogen habe. Vielleicht sollten wir das Ganze eine Zeit lang ruhen lassen.«

Stille trat ein, dann räusperte Archer sich. »Ich kann nicht glauben, dass ich das aus Ihrem Mund höre.«

»Ich glaube, wir haben uns gegenseitig ein wenig verrückt gemacht.«

»Tom, ist bei Ihnen irgendetwas nicht in Ordnung? Gibt es Probleme?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Ich sollte wenigstens vorbeikommen, um den Videokram abzuholen…«

»Vielleicht am Wochenende«, sagte Tom.

»Wenn Sie das wollen…«

»Ja, das will ich.«

Er legte den Hörer auf.

Wenn es einen Schatz geben sollte, dachte er, dann gehört er mir.

Er ging wieder in den Keller.

Das Haus summte und brummte um ihn herum.

4

Weil Montag war, weil sie ihre Arbeitsstelle bei Macy’s verloren hatte, weil es ein kühler und zeitweilig regnerischer Frühlingstag war — und vielleicht auch, weil die Sterne oder das Kismet oder ihr Karma es so gewollt hatten —, blieb Joyce stehen, um den fremden Mann zu grüßen, der vor Kälte zitternd auf einer Bank im Washington Square Park saß.

Die graue, nasse Dämmerung hatte jeden bis auf die Tauben vertrieben. Sogar der namenlose Achtzigjährige, der noch in der vergangenen Woche »Lyrik« auf Pappkartontafeln verkauft hatte, war weitergezogen oder gestorben oder in den Himmel aufgefahren. Sonst war der Platz mit Gitarrenspielern, Studenten von der NYU und halbwüchsigen Mädchen aus den Privatschulen in den feineren Vororten bevölkert, die, wie sie meinten, hier »die Szene« hautnah erleben konnten. Doch im Augenblick gehörte der Park Joyce und diesem seltsamen stillen Mann, der sie mit erschrockenen Augen musterte.

Natürlich war es dumm und wahrscheinlich sogar gefährlich, stehen zu bleiben und ein Gespräch anzufangen. Schließlich war sie immer noch in New York. Eigenartige Menschen gab es hier reichlich. Und ihre Eigenarten waren nur selten feinsinnig oder interessant. Aber Joyce verfügte über eine recht gute Menschenkenntnis. »Joyce mit dem scharfen Blick« hatte Lawrence sie mal genannt. »Die Florence Nightingale der Nächstenliebe.« Sie wehrte sich innerlich gegen diese Anspielung — obgleich sie in diesem Moment schon wieder so reagierte und sich eines Streuners annahm —, doch sie war mit der damit verbundenen Beschreibung ihrer Person einverstanden. Sie wusste, wem sie trauen konnte. »Sie haben sich wohl verirrt«, sagte sie.

Er brachte ein Lächeln zustande. Es scheint ihm schwerzufallen, dachte sie.

»Nein«, sagte er. »Eigentlich nicht. Ich habe es herausbekommen. New York City. Ich bin in New York. Aber das Datum…« Er hob die Hände in einer hilflosen Geste.

Oh, dachte Joyce. Aber er war kein Alkoholiker. Seine Augen waren hell und klar. Er hätte schizophren sein können, doch sein Gesicht strahlte nicht das gequälte Erstaunen aus, das sie in den Gesichtern der Schizophrenen gesehen hatte, denen sie bisher begegnet war. Davon hatte es eine ganze Reihe gegeben, darunter auch ihr Onkel Teddy, der in einem »Heim« auf dem Land lebte. Kein Alkoholiker, kein Schizo — vielleicht hatte er irgendetwas geschluckt. Im Village waren zur Zeit spezielle Tabletten im Umlauf. Dexadril war besonders beliebt, und LSD-25 war leicht zu bekommen: Ein Fremder von außerhalb, der sich im Remo etwas besorgt hatte, das war eine Möglichkeit. Aber kein richtiger Tourist. Der Mann trug Jeans und ein Baumwollhemd, das am Kragen offen war, und er trug die Sachen ganz selbstverständlich. Sie stellten keine besondere Kluft dar, die er sich zusammengesucht hatte, um sich für einen Nachmittag unters »Volk« zu mischen. Vielleicht ist er trotz allem einer von uns, dachte Joyce, und allein diese Möglichkeit brachte sie dazu, dass sie sich neben ihn setzte. Die Bank war feucht, und der Regen drang durch ihren Rock. Aber sie war bereits nass, seitdem sie den Bahnhof der IND in der West Fourth Street verlassen hatte. Es war nicht schlimm, an einem kalten Nachmittag kurz vor Einbruch der Dämmerung durchnässt zu sein, denn irgendwann fand man sicherlich ein gemütliches Plätzchen, um sich aufzuwärmen und zu trocknen, und dann war alles wieder in Ordnung. »Sie könnten vermutlich eine Tasse Kaffee vertragen.«

Der Mann nickte. »Das könnte ich.«

»Haben Sie Geld?«

Er klopfte auf seine linke Hüfte. Joyce hörte die Geldmünzen in seiner Hosentasche klimpern. Aber sein Gesicht nahm plötzlich einen skeptischen Ausdruck an. »Ich glaube nicht.«

»Wie fühlen Sie sich?« Ihre Stimme klang leise, prüfend.

Er sah sie wieder an. Nun war der ratlose Ausdruck in seinen Augen verschwunden — er begriff sehr wohl, worauf ihre Frage abzielte.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich kann mir denken, wie Ihnen das vorkommen muss. Ich kann es leider nicht erklären. Haben Sie jemals die Erfahrung gemacht, etwas zu erleben und es nicht begreifen zu können — etwas derartig Gigantisches, das über Ihren Verstand hinausgeht?«

LSD, dachte sie. Er ist auf dem Trip. Ein blutiger Anfänger im chemischen Wunderland. Sei nett zu ihm, sagte sie sich. »Ich glaube, nach einem Kaffee geht es Ihnen schon besser.«

Er sagte: »Ich habe Geld. Aber ich glaube nicht, dass es hier gültig ist.«

»Eine fremde Währung?«

»So könnte man es ausdrücken.«

»Sind Sie auf Reisen?«

»Ich glaube, ja.« Er stand abrupt auf. »Sie brauchen mir keinen Kaffee zu spendieren, aber wenn Sie es doch tun, wäre ich Ihnen dankbar.«

»Ich heiße Joyce«, sagte sie. »Joyce Casella.«

»Tom Winter«, stellte er sich vor.

Es war Anfang Mai 1962.

Sie bestellte Kaffee in einem altmodischen Imbissrestaurant, in dem niemand sie kannte; nicht etwa, weil es ihr peinlich war, sondern weil sie nicht wollte, dass zu viele Menschen diesen Mann — Tom Winter — erschreckten. Er erschien verwirrt, benommen und schien nicht ganz auf der Höhe der Zeit zu sein, aber darunter erahnte sie etwas Seltsames, vielleicht das Motiv für die Reise, die ihn hierhergeführt hatte, oder irgendein Martyrium, ein glimmendes Feuer. Sie erzählte von ihrem Leben, dem Job in der Buchabteilung bei Macy’s, den sie verloren hatte, über ihre Musik, und entband ihn von der Notwendigkeit, Konversation zu machen. Gleichzeitig hatte sie ausgiebig Gelegenheit, ihn zu betrachten. Vor ihr saß ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, der Kleider trug, die betont lässig erschienen, aber nicht ärmlich und vernachlässigt wirkten, ein Reisender mit neugierigen Augen, der nicht abgemagert war, aber so hager wie jemand, der schon lange keine richtige Mahlzeit mehr zu sich genommen hatte.

Er wollte nicht über sich reden, wie er hierhergelangt war. Joyce respektierte das. Sie hatte viele Menschen kennengelernt, die nicht über sich selbst reden wollten. Menschen mit einer Vergangenheit, die sie verbergen wollten. Oder Menschen ohne Vergangenheit, Flüchtlinge aus den Vororten mit großartigen Visionen vom Village, das sie nur aus dem Fernsehen oder aus jenen selbstgerechten Artikeln von Time und Life kannten. Joyce hatte auch einmal zu ihnen gehört, Anfängerin an der NYU in einem Dirndlkleid, und sie respektierte Toms Schweigen, obgleich seine Geheimnisse weniger prosaisch sein mochten als ihre eigenen.

Er sagte ihr aber, woher er kam — aus einem kleinen Küstenort namens Belltower im Staat Washington. Sie fühlte sich durch diesen Anflug von Mitteilungsbereitschaft ermutigt, ihn zu fragen, was er dort getrieben habe.

»Eine ganze Menge Dinge«, sagte er. »Autos verkauft.«

»Ich kann Sie mir kaum als Autoverkäufer vorstellen.«

»Ich vermute, das haben andere Leute auch gedacht. Ich war nicht sehr gut in diesem Gewerbe.«