Dieses sich immer weiter offenbarende, unvollständige Geheimnis.
Er hielt sich während der nächsten Tage vom Keller fern und überlegte seinen nächsten Schritt.
Der Traum von den Maschinenkäfern war kein Traum gewesen, zumindest nicht ganz. Indem er die Wand aufgebrochen hatte, war er in ihren magischen Kreis eingedrungen. Sie versteckten sich nicht mehr vor ihm.
Zwei Nächte lang beobachtete er sie aufmerksam. Die Kleinsten von ihnen waren am zahlreichsten. Sie agierten einzeln oder paarweise, wanderten an den Fußleisten entlang, wagten sich gelegentlich quer über den Teppich oder in Küchenschränke hinein, wählten entweder schnurgerade oder elegant gebogene Routen. Sie waren winzig, farbig und unbarmherzig bei ihren Aufräumarbeiten. Wenn er sie berührte, erstarrten sie.
Am Freitagabend, als er vom Geschäft nach Hause kam, entdeckte er eine Reihe von ihnen, die hinter der Rückwand seines Fernsehers verschwanden. Als er das Ohr an das Gehäuse des Geräts presste, konnte er sie im Innern arbeiten hören. Ein leises metallisches Klirren und ein Zischen begleitete ihre Tätigkeit.
Er ließ sie in Ruhe.
Größer und weniger zahlreich war eine Variante, die Tom als »Maschinenmäuse« bezeichnete. Sie waren so groß wie Nagetiere und hatten annähernd deren Gestalt. Die Körper waren bläulich und glänzten metallisch, und die Köpfe hatten die Farbe von dunkler Tinte. Sie bewegten sich mit erstaunlichem Tempo, obgleich sie weder über Beine noch Füße verfügten. Tom vermutete, dass sie millimeterhoch über dem Boden dahinschwebten, aber das konnte er nur vermuten. Sie huschten davon, wenn er versuchte, sie zu berühren oder gar festzuhalten. Öfter beobachtete er sie dabei, wie sie die kleineren Wesen vor sich hertrieben oder wie sie allein irgendwelche noch geheimnisvolleren Dinge erledigten.
Am Samstag — einer weiteren mondhellen Nacht — bereitete er sich eine Kanne schwarzen Kaffee zu und sah sich im Nachtprogramm einen Spielfilm an. Gegen ein Uhr knipste er die Beleuchtung aus und begab sich leise in den Garten. Ausgerüstet mit einer stabilen Taschenlampe und mit hohen Gummistiefeln, um seine Füße zu schützen, ging er durch das feuchte Gras.
Die Maschinenkäfer hatten sich in großer Zahl eingefunden und glänzten im Mondlicht. Eine ganze Schar von ihnen strömte aus den Löchern im Fundament heraus und verschwand im Wald. Was taten sie dort?
Tom erwog, ihnen zu folgen, entschied sich aber dagegen. Nicht jetzt. Nicht in der Dunkelheit.
Sie wünschten seine Hilfe. Sie hatten darum gebeten.
Dass er das wusste, beunruhigte ihn. Es war eine Art von Kommunikation, die er nicht kontrollieren oder auch nur begreifen konnte. HILF UNS TOM WINTER hatten sie gesagt, und sie sagten es jetzt wieder. Aber es war keine Botschaft, die er hörte oder verstand, sondern lediglich ein stummes Begreifen, dass es das war, was sie von ihm wollten. Sie wollten ihm keinen Schaden zufügen. Sie wünschten ganz einfach seine Hilfe. Welche Hilfe, wo? Aber die einzige Antwort war eine Art Winken, das er genauso begriff wie ihre andere Botschaft: FOLGE UNS IN DEN WALD.
Er wich zurück in die Dunkelheit und bekam Angst. Er erinnerte sich plötzlich lebhaft, wie er einmal vor vielen Jahren »The Goblin Market« von Christina Rossetti gelesen hatte. Er hatte den Text in einem der Bücher seiner Mutter gefunden, einem in Leder gebundenen Buch mit viktorianischer Lyrik. Er wusste noch, wie er fröstelnd in seinem sommerlich warmen Zimmer gelegen hatte, voller Angst vor der spinnenartigen Silhouette des Erdbeerbaums vor seinem Fenster und voller Unbehagen an die schlimmen Folgen nächtlicher Einladungen denkend, denen man zu bereitwillig gefolgt war. Nein, danke, dachte er, ich glaube, ich habe jetzt keine Lust, den Wald zu betreten.
Die Maschinenkäfer gaben keine Antwort — abgesehen vielleicht von dem Äquivalent eines Achselzuckens — und setzten ihren seltsamen Reiseverkehr zwischen dem Haus und dem Wald fort.
Am nächsten Morgen, als er den Fernseher einschaltete, gab dieser ein atmosphärisches Knistern und Rauschen von sich, leuchtete plötzlich viel heller und produzierte eine Botschaft auf dem Schirm:
HILF UNS TOM WINTER
Tom war gerade aus der Dusche gekommen. Er trug einen Bademantel und hatte eine Tasse Kaffee in der Hand. Er bemerkte nicht, wie der Kaffee auf seine Hand und auf den Teppich schwappte, obgleich die Haut in seiner Daumenbeuge für den Rest des Tages gerötet war und schmerzte.
Die Buchstaben blinkten und beruhigten sich dann.
»Mein Gott!«, stieß er hervor.
Der Fernseher antwortete.
HILF UNS
In einem ersten Impuls wollte er schnellstens das Haus verlassen und die Tür hinter sich verriegeln. Er zwang sich, diesem Drang zu widerstehen. Er wusste, dass die Maschinenkäfer in seinen Fernseher eingedrungen waren. Das war also der Grund gewesen, nahm er an.
Er trat einen Schritt zurück und setzte sich nicht ganz freiwillig auf das Sofa.
Er befeuchtete seine Lippen.
»Was seid ihr?«, fragte er.
Die Schrift HILF UNS verblasste: Für einige Sekunden war der Bildschirm leer, dann tauchten andere Buchstaben auf.
WIR SIND FAST VOLLSTÄNDIG
Kommunikation, dachte Tom. Sein Herz hämmerte noch immer wild gegen seine Rippen. Er erinnerte sich an ein Spielzeug, das er als Kind besessen hatte, eine Zauberkugel. Wenn man ihr eine Frage stellte und sie umdrehte, erschien in einem kleinen Fenster eine Antwort — ja oder nein oder irgendein rätselhafter Zweizeiler. Die Buchstaben auf diesem Bildschirm sahen genauso aus, schienen aus dunklen Tiefen aufzutauchen. Die Erinnerung war zwar seltsam, aber sie beruhigte ihn.
Er stellte seine Kaffeetasse beiseite und überlegte einen Moment lang.
»Was wollt ihr von mir?«
Eine kurze Pause.
PROTEINE KOMPLEXE KOHLEHYDRATE
Etwas zu essen, dachte er. »Wofür?«
UM UNSEREN AUFBAU ZU VOLLENDEN
»Was meint ihr mit ›um euren Aufbau zu vollenden‹?«
UM UNS ZU VOLLENDEN
Offenbar war es die einzige Antwort, die sie geben konnten. Er dachte über seine nächste Frage nach.
»Sagt mir, woher ihr kommt.«
Diesmal dauerte die Pause etwas länger.
DAS BRAUCHST DU NICHT ZU WISSEN TOM WINTER
»Ich bin neugierig. Ich möchte es wissen.«
DU WILLST ES NICHT WISSEN TOM WINTER
Na ja, vielleicht doch nicht.
Er lehnte sich zurück, trank einen Schluck Kaffee und versuchte in seinem Kopf all die Fragen zu ordnen, die ihn beschäftigten, seit er das Haus bezogen hatte.
»Was ist mit dem Mann passiert, der früher hier gewohnt hat?«
DEFEKT
Ein seltsames Wort, dachte Tom. »Was meint ihr mit ›defekt‹?«
ER MUSS REPARIERT WERDEN
»Ist er noch da? Wo finde ich ihn?«
FOLGE UNS
In den Wald, meinten sie. »Nein. Das will ich noch nicht. Stimmt es, dass ihr ihn — repariert?«
NOCH NICHT VOLLENDET
»Ich habe den Tunnel hinter der Wand gefunden«, sagte Tom. »Was hat es damit auf sich? Sagt mir, wohin er führt.«
Nun musste er länger als bisher warten — er vermutete bereits, sie hätten den Kontakt abgebrochen. Dann erschienen weitere Buchstaben.
EINE MASCHINE
»Der Tunnel ist eine Maschine? Das verstehe ich nicht.«
DER TUNNEL IST EINE MASCHINE