Seitdem waren die Mieten gestiegen. Ein allmählicher Alterungsprozess hatte eingesetzt, seit die U-Bahn das Village in den Dreißigerjahren mit dem Rest der Stadt verband. Wirklich arme Künstler wurden bereits in die Lower East Side abgedrängt. Aber nun war das Jahr 1962, und der Duft der Rebellion lag kräftig und scharf in der Luft.
Er stellte fest, dass es ihm dort gefiel.
Vielleicht war das etwas merkwürdig. Tom hatte sich niemals als Künstler, als »Bohemien« verstanden. Das Wort hatte für ihn keine besondere Bedeutung. Er war in den Siebzigerjahren aufs College gelangen, hatte bei seltenen Gelegenheiten Marihuana geraucht und Jeans und lange Haare in den Jahren getragen, in denen es Mode war. Nichts davon war auch nur andeutungsweise Ausdruck einer Rebellion gewesen — es war reine Routine. Er stieg ohne besondere Vorbehalte in einen seriösen Job ein und dachte wie alle anderen nur an sein Einkommen. Wie jeder andere häufte er im Laufe der Zeit einige Schulden an und musste etwas kürzer treten. Er war besorgt — wie alle anderen —, als der Aktienmarkt ins Trudeln geriet. Er und Barbara hatten nie genug sparen können, um in ein Aktienpaket zu investieren, aber er machte sich Sorgen wegen der Wirtschaft und der Auswirkungen, die die Rezession auf ihren eigenen Status haben könnte. Barbara war eine überzeugte Umweltaktivistin, aber sie betrieb das Ganze nicht amateurhaft oder »künstlerisch«, trotz Tonys gegenteiliger Überzeugung; ihr Auftreten, so dachte Tom manchmal, war entschlossen und brutal genug, um auch einen hart gesottenen Firmenanwalt das Fürchten zu lehren. Sie sagte einmal zu ihm, wenn sie ein spießiges Kleid tragen müsste, um glaubwürdig zu erscheinen, dann würde sie sogar das tun. Das sei für sie überhaupt kein Thema.
Und als das Gerüst von Leben und Arbeit um ihn herum zusammenbrach, kam es Tom nicht in den Sinn, dass das System vielleicht versagt hatte, sondern nur, dass er damit nicht zurechtgekommen war.
Er war überrascht und erfreut, hier eine andere Haltung anzutreffen, und zwar nicht nur bei Joyce, sondern ganz allgemein im Village. Eine Übereinkunft, dass die Welt draußen ein steriles Labor war und die einzigen interessanten Produkte seine Fehlschläge, sein Ausschuss und seine Flüchtlinge waren.
Er war sicherlich genauso arm wie jeder andere Flüchtling. Joyce beherbergte ihn für ein paar Tage, als er eintraf — bis Lawrence seinen Unmut äußerte —, und überredete ihn, seine Gitarre nicht zu verkaufen. Sie hatte einen Teilzeitjob als Serviererin gefunden und lieh ihm genügend Geld, damit er sich im YMCA ein Zimmer nehmen konnte. Sie erzählte ihren Freunden, er suche einen Tagesjob, und einer von ihnen — ein damals noch erfolgloser Romancier namens Soderman — erzählte Tom, auf der Eighth Avenue gebe es einen Fernseh- und HiFi-Laden, der einen Helfer suchte. Der Laden hieß Lindner’s Radio Supply, und der Inhaber, Max Lindner, erklärte, dass er einen Techniker brauche, »jemanden, der hinten in der Werkstatt arbeitet«, und ob Tom denn Ahnung von Elektrotechnik habe? Tom bejahte, er kenne sich aus — er hatte auf dem College zwei elektrotechnische Kurse besucht und konnte auch mit einem Lötkolben umgehen. Max’ Kunden brachten zwar vorwiegend Geräte mit Röhrentechnik zur Reparatur, aber Tom war überzeugt, damit keine Schwierigkeiten zu haben. »Hinten in der Werkstatt«, das war ein Raum so groß wie eine Doppelgarage. An den Wänden standen Regale voller Bildröhren und Testgeräte, und über einer Werkbank hing an einer Kordel eine ziemlich zerfledderte RCA-Reparaturanleitung. Die Luft war erfüllt vom Geruch heißer Lötpaste.
»Mein letzter Techniker war ein Puertoricaner«, erzählte Max. »Er war erst achtzehn, aber es gab nichts, was er nicht auseinandernehmen und so wieder zusammensetzen konnte, dass es doppelt so gut funktionierte wie an dem Tag, als es verkauft worden war. Und weißt du, was sie taten? Sie haben ihn, verdammt noch mal, eingezogen. In einem halben Jahr wird er Radarstationen in Congo Bongo bauen. Ich habe meinen Dienst in Guadalcanal abgeleistet, und so belohnt die Army mir meinen Einsatz.« Er musterte Tom von Kopf bis Fuß. »Meinst du wirklich, du schaffst die Arbeit?«
»Ich denke schon.«
»Dann fängst du morgen an.«
Nach der Arbeit war sein wichtigstes Anliegen, eine Bleibe zu finden.
Joyce gab ihm recht. »Du kannst wirklich nicht in der französischen Botschaft bleiben. Dort ist es nicht gerade sicher.«
»Wo?«
»Im YMCA, Tom. Dort treiben sich nur Schwule herum. Sicherlich hast du es längst bemerkt.«
Sie grinste verschmitzt und erwartete, dass diese Information ihn schockierte. Er überlegte, was er darauf sagen sollte. Meine Frau hatte politisch korrekte Ansichten; wir haben an allen Benefizveranstaltungen für die Aids-Hilfe teilgenommen. »Ich denke, dass meine Unschuld noch intakt ist.«
Sie hob die Augenbrauen. »Deine Unschuld?«
Um seinen Job zu feiern, waren sie zu Stanley’s gegangen, eine neue Bar auf der Lower East Side. Tom hatte angefangen, sich mit der Geographie der Stadt vertraut zu machen. Er begriff, dass das East Village noch mehr dem Underground zuzurechnen war als das West Village, eine Bushaltestelle von der U-Bahn entfernt. Deshalb spendierte Stanley manchmal Freibier, um sich einen festen Gästestamm zu schaffen. Lawrences Wohnung war ganz in der Nähe, und Joyces Wohnung war auch nicht weit entfernt, und außerdem war in den etwas bunteren Bezirken um die Bleecker und die MacDougal Street sowieso nichts los.
Tom freute sich über den Job und war etwas nervös im Hinblick auf den Abend.
Joyce bot ihm eine Zigarette an. Er lehnte ab. »Danke, ich rauche nicht.«
»Du hast ja so gut wie keine Laster, Tom.« Sie zündete sich selbst eine an. Das Büro bei Aerotech, in dem er gearbeitet hatte, war zur rauchfreien Zone erklärt worden. Keiner von Barbaras Freunden hatte geraucht, und den Verkäufern im Autoladen wurde ebenfalls empfohlen, darauf zu verzichten. Er hatte völlig vergessen, was für ein faszinierendes kleines Ritual das Anzünden einer Zigarette sein konnte. Joyce führte es mit natürlicher Grazie aus, löschte das Zündholz, indem sie damit hin und her wedelte und es dann in den Aschenbecher fallen ließ. In einer Stunde, wenn der Betrieb in der Bar zunahm, wäre die Luft mit blauem Qualm geschwängert. Die vehementen Attacken von C. Everett Koop waren noch ein Vierteljahrhundert entfernt.
»Wenigstens trinkst du Alkohol.«
»Aber nur sehr mäßig.« Er hatte sich ein Bier bestellt. »Früher habe ich mehr getrunken. Tatsächlich war ich kein besonders erfolgreicher Alkoholiker. Mein Arzt sagte mir, es sei für mich zu schwierig, richtig heftig zu trinken, und zu einfach, um damit aufzuhören. Er sagte, mir fehle wohl das Gen für Alkoholismus — es sei in meiner DNS einfach nicht vorhanden.«
»In deiner was?«
»Ich bin nicht so veranlagt.«
»Hoffnungslos tugendhaft.« Sie zog an ihrer Zigarette. »Irgendetwas bedrückt dich, nicht wahr?«
»Ich habe heute Abend keine Lust, vielen Fragen auszuweichen.«
»Von mir oder…«
Er vollführte eine vage Handbewegung — nein, nicht von ihr.
»Nun, die Leute sind neugierig. Der Punkt ist der, Tom, dass du so gewöhnlich bist. Man kommt hierher und redet über nonkonformes Verhalten und über die, die außerhalb stehen und sich von allem fernhalten und so weiter, aber sie alle sind ganz bestimmte Typen. Jeder hat seine bestimmte Masche. Man kann es ihnen schon von weitem ansehen. Da ist der zornige junge Dichter. Der linke Folksänger. Der satte Werbemanager, der seine Jugendlichkeit unter Beweis stellen will. Und so weiter. Die echten, wahren Nulltypen sind sehr selten.«