Er lachte. »Und ich bin ein solcher Nulltyp?«
»Aber ganz gewiss.«
»Ist das nicht auch eine ganz bestimmte Masche?«
Sie lächelte. »Aber die Masche mag niemand richtig. Wenn du nicht einfach nur so herumhängen willst, Tom, dann gibt es für dich gewisse Möglichkeiten.«
»Als da wären?«
»Nun, du könntest irgendwoanders hingehen. Du könntest allen sagen, sie sollten dich in Ruhe lassen. Oder wir könnten irgendwoanders hingehen. Jetzt oder später.«
Sie saß ihm am Tisch gegenüber, hatte eine Hand leicht abgewinkelt, und der Rauch ihrer Zigarette kräuselte sich zur Decke. Das Licht war recht sparsam, aber sie wirkte bildschön. Sie hatte ihr langes Haar nach hinten gebunden. Ihre Augen blickten aufmerksam, fragend, und leuchteten durch die vergrößernde Wirkung ihrer Brillengläser besonders blau. Er merkte sehr wohl, dass sie Hemmungen hatte, dieses Angebot zu machen.
Es gab aber auch keinen Zweifel, was das Angebot anging. Tom hatte das Gefühl, als sei ihm der Stuhl abrupt unter dem Gesäß weggezogen worden. Er kam sich völlig schwerelos vor.
»Was ist mit Lawrence?«, wollte er wissen.
»Lawrence hat einige Probleme. Oder, ich weiß es nicht, vielleicht sind es auch meine Probleme. Er sagt, er will mich nicht als Besitz betrachten. Er will auch nicht, dass jemand anderer das tut. Er sagt, er sei sich nicht ganz klar über sich selbst. Und zwar was mich betrifft.«
Tom dachte darüber nach, als die Tür aufging und ein paar Leute aus der Hitze des Abends von der Avenue B hereinkamen. Ihre Freunde. »Joyce!«, rief einer von ihnen laut.
Sie sah Tom bedauernd an, hob die Schultern, lächelte und bildete mit dem Mund ein Wort, das »später« heißen konnte.
Wie jeder Immigrant — jeder Flüchtling — passte er sich an seine neue Umgebung an. Es war unmöglich, in einem Zustand ständigen Staunens zu leben. Aber das Wissen, wo er war und wie er dorthin gelangt war, ging ihm nur selten aus dem Sinn.
Neunzehnhundertzweiundsechzig. Die Berliner Mauer war weniger als ein Jahr alt. John F. Kennedy residierte im Weißen Haus. Die Sowjets trafen Vorbereitungen, Raketen nach Kuba zu schicken, und legten den Grundstein zu einer Krise, die schließlich doch nicht in einen Atomkrieg mündete. In Europa brachten Frauen Kinder zur Welt, die durch die Wirkung von Contergan missgebildet waren. Martin Luther King setzte sich an die Spitze der Bürgerrechtsbewegung. In diesem Herbst würde es Unruhen in Oxford, Mississippi, geben. Und die Yanks würden in der World Series die Giants schlagen.
Vertrauliche Informationen.
Er wusste das alles; aber er fühlte sich noch immer von der Unterhaltung ausgeschlossen, die um ihn herum in Gang kam. Für eine Weile unterhielten sie sich über Bücher und Bühnenstücke. Soderman, der Romancier, der Tom den Tip mit der Fernsehreparaturwerkstatt gegeben hatte, äußerte seine kritische Meinung zu Ionesco. Soderman war ein netter Kerl; er hatte ein junges, rundes Eichhörnchengesicht mit einem Bürstenhaarschnitt auf dem Kopf und einem Bartsaum unter seinem Kinn. Er war durchaus sympathisch, aber er hätte ebenso gut Griechisch sprechen können. Ionesco war ein Name, den Tom schon mal gehört hatte, den er aber nicht einordnen konnte. Er war nicht mehr als eine vage Erinnerung an irgendeinen englischen Anfängerkurs. Desgleichen Beckett und Jean Genet. Er lächelte geheimnisvoll an den, wie er meinte, richtigen Stellen.
Dann lieferte Lawrence Millstein einen verbalen Leitartikel über die Unterschiede zwischen Folk und Jazz, und Tom hörte vertrautere Töne. Millstein war ein Vertreter der alten Schule und an diesem Tisch hoffnungslos unterlegen. Er hasste die Café-Folk-Szene und hegte nostalgische Gefühle für die mächtigen Götter des Tenorsaxophons.
Er sah auch entsprechend aus. Wenn Tom die Besetzung für eine Filmversion von On The Road hätte zusammenstellen müssen, hätte er sicherlich Millstein für eine Atmosphäre schaffende Nebenrolle ausgesucht. Er war hochgewachsen, schlank, dunkelhaarig, und in seinem Auftreten lag etwas Einstudiertes, Bemühtes. Joyce beschrieb ihn als »einen Raskolnikoff-Typen, zumindest gibt er sich alle Mühe, so zu erscheinen«.
Millstein hielt einen zwanzigminütigen Monolog über Charlie Parker und die »Qual der Negerseele«. Tom hörte mit wachsendem Unmut zu, schwieg aber — und trank. Er kannte die Musik, von der Lawrence sprach. Während seiner Trennung von Barbara und nach der Scheidung hatte er manchmal den Eindruck gehabt, dass Parker — und Thelonius Monk und der Miles Davis der Sketches-of-Spain-Ära und Sonny Rollins und Oliver Nelson — das Einzige gewesen war, was sie zusammengehalten hatte. Er hatte seine ramponierten Langspielplatten gegen die CD-Versionen von einigen dieser Aufnahmen ausgetauscht. Irgendwie war es eine Anomalie, dachte er manchmal, dass diese alten monophonen Aufnahmen von einer Lasertechnologie entziffert wurden. Aber die Musik drang weiterhin aus den Lautsprechern. Er liebte sie, weil es keine Musik war, bei der man in sein Bier weinen konnte. Sie war niemals traurig. Sie linderte das persönliche Leid, sie machte es einem bewusst, aber manchmal — an den guten Abenden — half sie einem, das Leid weit hinter sich zu lassen. Tom hatte immer diese seltsame Art und Weise bewundert, wie die Musik Traurigkeit in Freude verwandeln konnte, und es ärgerte ihn, anhören zu müssen, wie Millstein sich derart selbstgerecht darüber äußerte.
Joyce schaltete sich ein. »Niemand verdrängt Parker oder lehnt ihn ab. Die Folkmusik tut etwas völlig anderes. Sie unterscheidet sich vom Jazz. Es gibt keinen Streit zwischen beiden.«
Tom ahnte, dass sie diese Diskussion schon früher geführt hatten und dass Millstein seine persönlichen Gründe hatte, um das Thema zur Sprache zu bringen. »Es ist die Musik der Weißen«, sagte Millstein.
»In den Folk-Cafés findet mehr soziale Kritik statt als in den Jazzbars«, erwiderte Soderman.
»Aber das ist doch der Punkt. Folkmusik ist wie ein College-Text. All diese ernsthaften kleinen Predigten. Jazz ist das eigentliche Thema. Das ist der Stoff, den die Predigten behandeln. Das gesamte Schwarzendasein ist darin eingebettet.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Tom. »Dass die Weißen keine Musik machen sollten?«
Augen richteten sich auf ihn. Soderman hob die Hand. »Sieh mal an, der Fernsehmann spricht!«
Millstein hatte ziemlich viel Bier getrunken und war streitsüchtig. »Was, zum Teufel, weißt du denn schon von den Schwarzen und ihrem Leben?«
»Kein bisschen«, sagte Tom freundlich. »Verdammt noch mal, Larry, ich bin genauso weiß wie du!«
Lawrence Millstein öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Einen Moment lang herrschte Stille… dann brachen alle am Tisch in brüllendes Gelächter aus. Millstein brachte endlich einen Ton hervor — es hätte ein Leck mich doch sein können —, aber es ging in dem Lärm unter, und Tom konnte es ignorieren.
Joyce lachte ebenfalls, dann lenkte sie die Unterhaltung in eine weniger gefährliche Richtung. Sie habe einen Brief von jemandem namens Susan bekommen, die in einer ländlichen Gegend Georgias politische Aufklärungsarbeit leiste. Offenbar hatte Susan, ehemalige Vassar-Studentin, während ihrer Zeit im Village ein ziemlich wildes Leben geführt. Jeder wusste irgendeine Anekdote über Susan zu berichten. Joyce lehnte sich erleichtert zurück.
Sie beugte sich zu Tom hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Pass auf, dass du ihn nicht wütend machst.«