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Neunzehnhundertachtundfünfzig, -neunundfünfzig, -sechzig.

Nixon in Moskau, Sit-ins in Greensboro, Kennedy im Weißen Haus mit nur wenigen Stimmen Vorsprung.

Billy wurde älter. Ebenso die Rüstung — aber er versuchte, nicht daran zu denken.

Er versuchte, an viele Dinge nicht zu denken, vor allem heute, an diesem Tag, während er die Ausgänge überprüfte: im Frühsommer 1962, in einer warmen Nacht, die ihn an Ohio erinnerte.

Billy trat durch die knarrende Tür des alten Gebäudes unweit des Tompkins Square, wo der Zeitreisende früher gewohnt hatte und wo jetzt niemand mehr lebte außer ein paar alten Zeugen der Vergangenheit.

Er hatte eine seltsame Zuneigung zu diesen Leuten entwickelt, menschlicher Schutt, zu zerbrechlich oder zählebig, um ein Gebäude aufzugeben, das er um sie herum hatte verfallen lassen. Zwei von ihnen hatten schon lange dort gelebt, ehe Billy aufgetaucht war — ein arthritischer alter Mann namens Shank im vierten Stock und eine zuckerkranke Rentnerin im zweiten. Mrs. Korzybski, die Rentnerin, vergaß manchmal, ihre Medizin zu nehmen, und irrte dann im Delirium eines Insulinschocks auf der Straße herum. Das war einmal passiert, als Billy die Ausgänge kontrollierte, und er hatte die Frau ins Haus gebracht. Dabei hatte er seinen Generalschlüssel benutzt, um ihre Wohnungstür zu öffnen, die die Frau aus irgendeinem Grund hinter sich abgeschlossen hatte. Er sah es nicht so gerne, wenn die Polizei oder ein Krankenwagen zu dem Haus kamen, daher hatte er in den Küchenschubladen zwischen den Dosen mit Katzenfutter und dem Besteck und vergilbten Fotografien herumgesucht, bis er ihr Spritzbesteck für die Insulininjektionen fand. Mit der Spritze injizierte er dann eine genau bemessene Dosis Insulinlösung in die Beuge ihres schlaffen Arms. Als sie wieder zu sich kam, bedankte sie sich bei ihm. »Sie sind nett«, sagte sie. »Sie sind viel netter, als Sie aussehen. Wie kommt es, dass Sie so gut mit der Spritze umgehen können?«

»Ich war mal in der Armee«, sagte Billy.

»In Korea?«

»Richtig, in Korea.«

Er hatte Korea im Fernsehen gesehen.

Sie sagte, sie sei froh, dass sie jetzt die Miete wieder pünktlich zahlen könne, und wie es käme, dass schon lange keine neuen Leute mehr eingezogen seien? »Seit dieser Mr. Allen Hausverwalter war. Es wird immer einsamer.«

»Ich vermute, niemand scheint eine Wohnung mieten zu wollen.«

»Seltsam. Da höre ich aber etwas ganz anderes. Vielleicht sollten Sie mal renovieren.«

»Eines Tages«, erklärte Billy ernst, »steht hier sowieso alles unter Wasser.«

Wenn er jetzt das Haus aufsuchte, dann nur noch nachts, wenn Mrs. Korzybski schlief. Heute Abend war ihre Wohnung dunkel. Alle anderen ebenfalls, bis auf Nummer 403: Arnos Shank, der von einer Betriebsrente der H. J. Heinz Company in Pittsburgh lebte. Mr. Shank war nach New York gekommen auf der Suche nach einem Verleger für sein episches Gedicht Ulysses an der Elbe. Die Verlagswelt hatte ihn bisher enttäuscht, aber Mr. Shank redete noch immer gern über das Werk — drei dicke Bände Pergamentpapier, die mit Gummiband zusammengehalten wurden —, das immer noch nicht abgeschlossen war. Mr. Shank ließ ständig das Licht brennen für den Fall, dass ihm mitten in der Nacht eine Inspiration kam… aber Mr. Shank schlief sicherlich auch schon. Jeder in Billys Haus war einsam und schlief.

Jeder, außer Billy.

Er pfiff eine Melodie und trat durch den Eingang. Die Farbe an den Wänden war schon vor langer Zeit abgebröckelt. Die Spiegelwand an der Treppe war blind und fleckig, und einige Bodenfliesen hatten sich an den Ecken hochgewölbt wie welkes Laub. Billy ging direkt hinunter in den Keller.

Auf der Treppe, die nach unten führte, war die Luft warm und schal. Diese alten Holzstufen waren in der feuchten Luft rissig geworden. Ruhig und bei matter Beleuchtung ging Billy an der bizarren und wenig wirksamen Ölheizung mit ihren vielen Heizungsrohren und dem ächzenden Heißwasserboiler vorüber, dann weiter durch eine neutrale Tür und tiefer hinunter, vorbei am Vorratskeller mit seinen limonengrün gestrichenen Wänden und den verrosteten Farbeimern, bis zu der Tür, die er mit einem stabilen Yale-Vorhängeschloss gesichert hatte. Die Beleuchtung war schwach — die Beleuchtung hier war immer schwach. Billy holte das verchromte Zippo-Feuerzeug aus der Gesäßtasche.

Er fühlte sich hier unten, in direkter Nähe des Tunnels, sehr seltsam. Er hatte große Angst empfunden, als ihm das erste Mal klar geworden war, wie unendlich groß dieses Gewirr zeitlicher Brüche wirklich war — was es bedeutete und welche Folgen es für ihn haben konnte. Er konnte nicht an den Tunnel denken, ohne sich die Wesen vorzustellen, die ihn gebaut hatten… Wesen, das wusste Billy, die nahezu allmächtig waren, sodass man sie durchaus Götter nennen konnte. Und er erinnerte sich, was er in diesem Tunnel an dem Tag gesehen hatte, als er hier angekommen war, etwas noch Seltsameres als die gottgleichen Zeitreisenden, ein Wesen, so hell und heiß wie eine lodernde Flamme.

Er betätigte das Rad des Zippo. Es brauchte bald einen neuen Feuerstein, dachte Billy.

Er hielt die Flamme dicht an das Vorhängeschloss — dann atmete er zischend aus und wich zurück.

Mein Gott! Nach all den Jahren!

Das Schloss war aufgebrochen worden!

Billys erster Gedanke galt Krakow, der an dem Tag, als er eingezogen worden war, von einer anderen Tür auf ihn herabgesehen hatte. In diesem Moment hatte er das gleiche Gefühclass="underline" Er war in seinem Versteck aufgestöbert worden.

Er war wehrlos, waffenlos, und die Wände waren viel zu nahe, zu eng.

Er fasste sich an den Hals, tastete automatisch nach der Brustplatte, nach der Kontaktfläche, die seine Rüstung aktivierte — aber die Rüstung lag zu Hause.

Er wich von der Tür zurück.

Jemand war hier gewesen! Jemand suchte nach ihm!

Er überlegte, ob er nach oben gehen, Mrs. Korzybski aus dem Schlaf hochscheuchen, Amos Shank aus seiner Wohnung herauszerren sollte, ob er auf sie einschlagen sollte, bis sie ihm erzählten, wer ins Haus gekommen und wer gegangen war. Aber es war möglich, dass sie es nicht wussten. Es war sogar wahrscheinlich. Sicherlich hatte niemand etwas gesehen.

Ich brauche Hilfe, sagte Billy sich. Das Gefühl einer drohenden Gefahr legte sich um ihn wie eine Schlinge. (Ich bin nicht mehr allein!) Er steckte das Feuerzeug in die Tasche, stieg die Treppe hinauf und verließ das Gebäude.

Er stand allein in der Dunkelheit der Straße, während seine Augen die scharfkantigen Schatten zwischen den Mietskasernen absuchten.

Er eilte davon und mied die Nähe der Straßenlaternen.

Die Rüstung, dachte Billy. Die Rüstung würde wissen, was zu tun war.

10

Nach der Einäscherung ihrer Großmutter Peggy Simmons, die viele Jahre draußen an der Post Road gewohnt hatte und vor einer Woche im Schlaf gestorben war, fuhr Catherine Simmons nach Belltower.

Der Sommer machte aus Belltower eine hübsche kleine Stadt, zumindest wenn der Wind nicht von der Fabrik herüberwehte. Catherine kannte die Stadt von ihren vielen Besuchen. Sie hatte keine Schwierigkeiten, das Bestattungsunternehmen, Carstairs Funeral Home, in einer Seitenstraße der Brierley zwischen einem Antiquitätenladen und einem Fachgeschäft für Schiffszubehör zu finden. Sie parkte und blieb ein paar Minuten lang in ihrem Honda sitzen — sie war zu früh zu dem vereinbarten Termin erschienen.

Grandma Peggys Herzinfarkt war völlig unerwartet gekommen, und die Nachricht von ihrem Tod war noch immer unbegreiflich. Von allen Angehörigen von Catherines Familie schien Grandma Peggy am ehesten zum festen Inventar zu gehören. Sie war auf jeden Fall die Solideste und Lustigste des ganzen traurigen Vereins. Aber Grandma Peggy war tot, und Catherine musste sich wohl mit dieser Tatsache abfinden.