»Das ist wohl das Zynischste, das ich je aus deinem Mund gehört habe, Lawrence. Das macht mir einiges klar. Hat Gandhi nicht auch mal gesagt, dass man mit der Wahrheit die Mächtigen besiegen kann?«
»Die Mächtigen scheren sich einen Dreck darum, Joyce. Das sollte doch mittlerweile deutlich geworden sein.«
»Wie sieht dann die Alternative aus?«
»Il faut cultiver notre jardin. Oder schreib ein Gedicht.«
»Wie Ginsberg? Ferlinghetti? Das ist doch ziemlich starker politischer Tobak.«
»Du begreifst nicht ganz. Sie sagen, dies hier ist hässlich, und das verabscheue ich — und dies dort ist das Geheimnis, das darin verborgen ist.«
»Das Geheimnis?«
»Die Schönheit, wenn dir das lieber ist.«
»Damit macht man aus Dreck Kunst«, kommentierte Joyce.
»So könnte man es sagen.«
»Während Menschen verhungern? Während Menschen geschlagen, misshandelt werden?«
»Ehe ich verhungere«, sagte Millstein. »Ehe ich geschlagen werde. Ja, vorher schaffe ich lieber diese kunstvollen Objekte.«
»Und davon soll die Welt besser werden?«
»Sie wird immerhin schöner.«
»Du klingst wie ein Vertreter der Kommission zur Erhaltung der Naturparks.« Sie wandte sich an Tom. »Wie stehst du dazu? Glaubst du an Gedichte oder an Politik?«
»Ich habe über beides nie viel nachgedacht«, erwiderte Tom.
»Sieh mal an«, sagte Lawrence. »Der edle Wilde.«
Tom dachte über die Frage nach. »Ich nehme an, man tut, was man tun muss. Auf lange Sicht sind wir alle ziemlich ohnmächtig. Ich mache keine nationale Politik. Bestenfalls gehe ich zur Wahl, wenn es mir vernünftig erscheint. Henry Kissinger kommt nicht zu mir und fragt: ›Hey, Tom, was hältst du von dieser China-Affäre?‹«
Millstein blickte von seinem Drink hoch. »Wer zum Teufel ist Henry Kissinger?«
Joyce war ein wenig betrunken und betrachtete ihn aufmerksam über den Tisch hinweg. »Du sagst, wir bewirken nichts?«
»Vielleicht einige andere Leute. Etwa Martin Luther King. Chruschtschow. Kennedy.«
»Also Leute, deren Namen mit K beginnt«, bemerkte Millstein.
»Aber nicht wir!«, beharrte Joyce. »Wir ändern nichts. Ist es das, was du meinst?«
»Mein Gott, Joyce, ich weiß nicht, was ich meine. Ich bin kein Philosoph.«
»Dein Fehler«, sagte Millstein. »Liebe Joyce. Wenn du das nächste Mal mit einem Mann ins Bett steigst, dann achte darauf, dass jemand euch wenigstens vorher in aller Form vorstellt.«
Millstein trank, bis er die Welt hätte umarmen können. So hatte er es geplant. Er erklärte es ihnen. »Es funktioniert nicht immer. Naja, das wisst ihr ja. Aber manchmal. Trinkt, bis die Welt euch liebenswert erscheint. Ein gutes Rezept.« In diesem Stil ging der Abend weiter.
Gegen Mitternacht trennten sie sich auf dem Bürgersteig der Avenue B. Millstein stützte sich an Toms Brust ab. »Es tut mir leid«, sagte er. »Vorhin, meine ich. Ich war ein richtiges Arschloch.«
»Es ist schon okay«, sagte Tom.
Millstein schaute zu Joyce. »Ich hoffe, du bist gut zu ihr, Tom.«
»Das bin ich. Ganz bestimmt.«
»Sie weiß nicht, weshalb wir sie lieben und hassen. Aber es geschieht aus dem gleichen Grund. Weil sie… so voller Zuversicht ist. Sie glaubt an Tugend und Aufrichtigkeit. Sie kommt einfach in die Stadt und singt etwas über Mut. Mein Gott! Sie hat den Mut einer Heiligen. Es ist ihr Element. Sogar ihre Laster sind makellos. Sie ist nicht nur ganz gut im Bett, sie ist gut — im Bett!«
»Sei still«, sagte Joyce. »Lawrence, du Mistkerl! Jeder kann dich hören!«
Millstein drehte sich zu ihr um und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände, betrunken, aber sehr sanft. »Das ist keine Beleidigung, Liebes. Wir lieben dich, weil du besser bist als wir. Aber wir sind eifersüchtig auf deine Güte, und wir werden sie dir austreiben, so gut wir das irgend können.«
»Geh nach Hause, Lawrence.«
Er wich zurück. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sagte Tom. Aber es kam ihm nicht vor wie eine gute Nacht. Es war heiß. Es war dunkel. Er schwitzte.
Er ging mit Joyce nach Hause, die sich an seine Schulter lehnte. Sie war noch immer leicht betrunken; er war etwas nüchterner. Die Unterhaltung hatte sie in eine traurige Stimmung versetzt. Sie blieb unter einer Straßenlaterne stehen und sah ihn betrübt an.
»Du bist nicht mehr unsterblich«, stellte sie fest. »Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen.«
»Nein, nein! Als du hierherkamst, Tom, da warst du unsterblich. Ich war mir ganz sicher. Die Art, wie du gingst. Wie du alles betrachtet hast. Als käme dies alles von einem schönen, wunderbaren Ort, wo nichts dir etwas anhaben kann. Ich dachte, dass du einfach unsterblich sein musst — es war die einzige Erklärung.«
Er zuckte mit den Schultern. »Es tut mir leid, dass ich nicht unsterblich bin.«
Sie erreichten ihr Haus, und sie holte den Schlüssel aus ihrer Handtasche.
In der Wohnung war es heiß. Tom zog sich bis auf T-Shirt und Unterhose aus. Joyce streifte ihre Bluse ab. Ihr Anblick im matten Licht der Straße übte einen spontanen Reiz auf ihn aus. Er wohnte nun schon seit über einem Monat in diesem Apartment, und die Vertrautheit schien seine Gefühle für sie noch zu vertiefen. Als er sie kennenlernte, war sie eine Art Sinnbild gewesen. Sie war die Joyce, die im Jahr 1962 im Village wohnte. Nun war sie Joyce Casella aus Minneapolis, deren Vater Casellas Shoe Store besaß, deren Mutter zweimal im Monat anrief und sie anflehte, sich doch bald einen Ehemann zu suchen oder wenigstens einen besseren Job. Deren Schwester mit einem anständigen praktizierenden Katholiken namens Tosello verheiratet war und zwei Kinder hatte. Joyce, die sich wegen ihrer starken Brillengläser und wegen des Muttermals auf der rechten Schulter schämte. Joyce, die eine wundervolle Singstimme hatte, die einem seltenen Vogel glich, der nur zu ganz bestimmten und speziellen Gelegenheiten frei umherfliegen durfte. Diese durchschnittliche, alltägliche Joyce war der sinnbildlichen Joyce überlegen, und es war diese Joyce, die er zu lieben begonnen hatte.
Aber sie beachtete ihn nicht. Sie blätterte einen Stapel Papiere neben dem Bücherregal durch, vorwiegend Telefonrechnungen. Tom erkundigte sich, wonach sie suchte.
»Susans Brief. Der, von dem ich Lawrence erzählt habe. Sie schrieb, ich könne sie anrufen. ›Melde dich, wann du willst‹, schrieb sie. Sie will, dass ich dorthin komme. Es gibt so viel Arbeit! Mein Gott, Tom, wie spät ist es? Mitternacht? Hey, Tom, ist in Georgia jetzt auch Mitternacht?«
Ihre Frage beunruhigte ihn. »Was hast du vor? Willst du sie heute noch anrufen?«
»Genau.«
»Weshalb?«
»Um Vorbereitungen zu treffen.«
»Welche Vorbereitungen?«
Sie stand auf. »Was ich gesagt habe, war kein Scherz. Ich habe es ernst gemeint. Wozu bin ich hier schon nütze? Ich sollte viel lieber unten bei Susan sein und echte Arbeit leisten.«
Er war erstaunt. Das hatte er nicht erwartet.
»Du bist ja betrunken«, sagte er.
»Ja, ich bin ein wenig beschwipst. Aber nicht so sehr, um nicht an die Zukunft zu denken.«
Vielleicht war Tom auch ein wenig betrunken. Die Zukunft! Das war zugleich spaßig und beängstigend. »Du willst die Zukunft? Ich kann dir die Zukunft geben.«
Sie sah ihn stirnrunzelnd an und legte die Papiere beiseite. »Wie bitte?«
»Sie ist gefährlich, Joyce. Mein Gott, Menschen kommen ums Leben.« Er dachte an die Bürgerrechtsbewegung von 1962. Woran er sich erinnerte, war ein Durcheinander von Schlagzeilen, die er aus Büchern und Fernsehdokumentationen kannte. Bomben in Kirchen, Demonstranten, die Autobusse attackierten, Angehörige des Klan mit Schlagstöcken und abgesägten Schrotflinten. Er stellte sich Joyce mittendrin vor. Der Gedanke war unerträglich. »Du darfst nicht weggehen.«