Ben hielt inne. Er war ein wenig außer Atem geraten. Wie lange war es her, seit ihm diese Geheimnisse erklärt worden waren? Jahre, dachte er — gleichgültig, wie man es misst. »Catherine«, sagte er, »würden Sie bitte das Fenster öffnen? Draußen weht ein angenehmer Wind.« Ein wenig benommen zog sie die Jalousien hoch und kippte das Fenster. »Vielen Dank«, sagte Ben. »Sehr angenehm.«
Archer dachte nach und runzelte die Stirn. »Diese ›neuen Wesen‹ sind diejenigen, die Zeitreisen unternehmen?«
»Die die Maschine bauten, die sich in diesem Haus befindet, ja. Sie müssen begreifen, was Zeitreise bedeutet, in diesem Fall zumindest. Sie haben etwas in der Struktur von Zeit und Raum entdeckt, das man Falten nennen könnte, Risse, wenn Sie wollen, in einer Form und mit einer zeitlichen Ausdehnung außerhalb der definierbaren Grenzen dieses Universums, aber mit Berührungen und Überschneidungen an gewissen Stellen und zu gewissen Zeiten. Es gibt Knotenpunkte des Kontakts. Dieses Haus samt einer Zone ringsum von einigen hundert Metern Durchmesser ist ein solcher Knoten.«
»Warum hier?«, fragte Archer.
»Das ist eine bedeutungslose Frage. Die Knoten sind natürliche Erscheinungen, ähnlich wie Berge. Es gibt Knoten, die unter der Meeresoberfläche in der Erdkruste stecken, oder Knoten, die sich mitten in der Luft befinden.«
»Wie viele Orte wie diesen gibt es?«
Ben zuckte die Achseln. »Das habe ich nie erfahren. Sie neigen dazu, Trauben zu bilden, und zwar sowohl im Raum wie auch in der Zeit. Im zwanzigsten Jahrhundert sind sie ziemlich häufig anzutreffen. Natürlich werden nicht alle benutzt. Und dann bedenken Sie eines: Sie haben eine begrenzte Lebensdauer. Ein Knoten kann zwanzig Jahre lang wirksam sein, fünfzig Jahre, hundert Jahre, ehe er verschwindet.«
Catherine hatte den Erklärungen aufmerksam gelauscht. Sie hob eine Hand. »Habe ich das richtig verstanden? Leute, die weit vor uns in der Zukunft leben, öffnen den Zugang zu diesen Knoten, oder?«
Ben nickte.
»Aber weshalb? Wozu benutzen sie sie?«
»Sie bedienen sich ihrer zum Zweck historischer Untersuchungen. Dieses Jahrhundert — und auch das nächste, mein eigenes — markieren die Geburt ihrer Rasse. Für sie ist es die dunkle und ferne Vergangenheit.«
»Demnach sind sie Archäologen«, schloss Catherine.
»Archäologen und Historiker. Beobachter. Sie achten darauf, sich nicht einzumischen. Dieses Projekt hat auch für sie eine begrenzte Dauer. Die Zeit verstreicht an beiden Enden der Verbindungslinie. Sie arbeiten in einem auf zweihundert Jahre angesetzten Projekt, um ihr Wissen über diese wichtigen Jahrhunderte zu vervollständigen. Wenn sie diese Aufgabe erfüllt haben, wollen sie die Tunnel abbauen. Sie machen sich Sorgen wegen der Auswirkungen des Paradoxons; mit diesem Problem wollen sie sich nicht herumschlagen.«
»Des Paradoxons?«, fragte Catherine.
Archer nickte. »Ein Zeitparodoxon. Zum Beispiel, wenn du deinen eigenen Großvater tötest, ehe du geboren wirst, existierst du dann noch?«
Sie betrachtete ihn staunend. »Woher weißt du das denn?«
»Ich hab früher sehr viel Science-Fiction gelesen.«
»Ich habe gehört, es gibt erste Erklärungsversuche«, sagte Ben. »Das Problem ist nicht so überwältigend, wie man vielleicht den Eindruck haben könnte. Aber niemand ist begierig, einen praktischen Versuch durchzuführen.«
Archer kratzte sich am Kopf. »Allein die Anwesenheit von jemandem aus der Zukunft könnte schon gewisse Auswirkungen haben. Wenn diese Person auch nur eine Pflanze ausreißt oder einen Käfer zerquetscht.«
Ben lächelte. »Dieses Phänomen ist nicht nur auf die Zeitreisen beschränkt. In der Meteorologie nennt man es ›die empfindliche Abhängigkeit von ursprünglichen Bedingungen‹. Die Atmosphäre ist ein einziges Chaos. Ein kleiner Vorfall an einem Ort kann an einem anderen eine enorme Wirkung hervorrufen. Wenn man in China mit der Hand hin und her wedelt, kann man damit einen Sturm im Atlantik auslösen. In ähnlicher Weise könnte man den Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahl im Jahr 1996 beeinflussen, indem man um 1880 ein Insekt zertritt. Die Analogie ist recht gut, Doug, aber die Verbindung ist nicht unbedingt kausaler Natur. Es gibt stabile Elemente in der Atmosphäre, die stets wiederkehren, egal was passiert…«
»Attraktoren«, warf Archer ein.
Ben gefiel das. »Sie beschäftigen sich mit moderner Mathematik?«
Archer grinste. »Ich versuche es.«
»Mir wurde angedeutet, dass es ähnliche Strukturen auch in der historischen Zeit gibt; sie tauchen immer wieder auf. Aber ja, die Möglichkeit zu einer Veränderung besteht. Es ist ein Beobachterphänomen. Die Regel lautet, dass die Gegenwart immer die Gegenwart ist. Die Vergangenheit ist stets fixiert und unveränderlich, die Zukunft ist immer unbestimmt, egal, wo man sich befindet.«
»Von hier aus betrachtet«, sagte Archer, »ist das Jahr 1988 unveränderlich.«
»Weil es die Vergangenheit ist.«
»Aber wenn ich drei Jahre weit zurückginge…«
»Dann wäre es die Zukunft, daher unvorhersagbar.«
»Aber da ist doch schon das Paradoxon«, sagte Archer. »Es ergibt keinen Sinn.«
Ben nickte. Er hatte sich bereits selbst mit dieser Idee beschäftigt — und sich dann geschlagen gegeben. Es war ein Zen-Paradoxon, das zufälligerweise zutraf und dem daher nicht widersprochen werden konnte. »So funktioniert die Zeit eben«, sagte er. »Wenn es keinen Sinn ergibt, dann nur deshalb, weil man nichts Sinnvolles mit ihr angefangen hat.«
»Sie sagten, es gebe dafür eine ganz spezielle Mathematik?«
»Ich habe etwas Derartiges gehört.«
»Sie kennen sie nicht?«
»Es ist keine Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie kommt mehrere Jahrhunderte später. Ich bezweifle, dass Sie oder ich dies ohne einen gewissen Zuwachs an neuraler Substanz begreifen können.«
Catherine schüttelte den Kopf. »Das alles ist furchtbar abstrakt.«
Archer nickte und beschäftigte sich für einen Moment mit eigenen Gedanken.
Ben schaute aus dem Fenster. Er fand, dass diese Douglasfichten etwas ungemein Beruhigendes ausstrahlten. Dazu gehörte auch das Geräusch, das sie verursachten, wenn der Wind hindurchstrich.
Archer räusperte sich. »Ich habe noch eine weitere wichtige Frage.«
Die kritische Frage. »Sie wollen sicherlich wissen, was schiefgelaufen ist.«
Archer nickte.
Ben seufzte und atmete tief durch. Diese Erinnerungen machten ihm keine Freude.
Er hatte das Folgende aus seinen eigenen Erfahrungen, aus den fragmentarischen Erinnerungen der kybernetischen Helfer und aus Hinweisen konstruiert, die der Tunnel selbst geliefert hatte.
Es gab ein Haus wie dieses, erzählte er Archer und Catherine, ein vorübergehendes Depot, in der zweiten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Es stand in Florida, in jener Zeit Schauplatz heftigster tropischer Unwetter und des Bürgerkriegs.
Der Wächter des Hauses war eine Frau namens Ann Heath gewesen.
(Ann, dachte er, es tut mir leid, dass dies passieren musste. Du warst sehr gütig, als du mich rekrutiert hast, und ich hatte nie die Gelegenheit, dir diese Güte zu vergelten. Die Zeit mag zwar bereist werden können, aber sie lässt sich nicht beherrschen. Das Unerwartete passiert nun mal, und auf lange Sicht sind wir alle sterblich.)
Das Haus in Florida sollte geschlossen werden. Die Umgebung wurde zu unberechenbar. Aber etwas Unerwartetes geschah kurz vor der Schließung. Soweit Ben aus den verfügbaren Hinweisen schließen konnte, drangen Streitkräfte der amerikanischen Regierung in das Haus ein.
Das Haus verfügte über einige Verteidigungsanlagen, ebenso Ann Heath, aber wahrscheinlich waren diese wegen der Schließung bereits entfernt worden. Jedenfalls waren die Soldaten des schlimmen letzten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts wirklich hervorragend und verfügten über Waffen und Rüstungen, die tief in ihren Körpern und Nervensystemen verankert waren.