Mühsam stieg sie die Stufen hinauf. Ihre Beine brannten, ihre Füße schmerzten, alles tat weh. Zwar waren ihre Verletzungen verbunden worden, doch das bedeutete nicht, dass sie ihr nicht länger zusetzten. Die Spuren von Hugos Krallen brannten auf ihrer Wange und in ihrem Mund verspürte sie einen metallischen, bitteren Geschmack.
Endlich erreichte sie den obersten Treppenabsatz. Das geschwungene Geländer erinnerte an die Bugreling eines Schiffs. Auch in diesem Stockwerk herrschte eine unheimliche Stille; das Schlachtgetümmel drang nicht bis hier hoch. Vor ihr erstreckte sich ein weiterer langer Korridor mit unzähligen Türen, die jedoch nicht alle verschlossen waren. Aus manchen drang zusätzliches Licht auf den Flur. Instinktiv zog es sie zur letzten Tür auf der linken Seite. Als sie davorstand, warf sie vorsichtig einen Blick in den dahinterliegenden Saal.
Im ersten Moment erinnerte sie der Raum an eines der historischen Zimmer im Metropolitan Museum of Art. Es schien fast, als machte sie einen Schritt in die Vergangenheit – die Holzvertäfelung an den Wänden glänzte, als wäre sie gerade erst frisch poliert worden, und der endlos lange Esstisch war mit feinstem Porzellan gedeckt. Ein schimmernder Spiegel mit einem kunstvollen Goldrahmen schmückte die hintere Wand, flankiert von zwei Ölgemälden in wuchtigen Rahmen. Alles glitzerte und funkelte im Licht der Fackeln – die Servierplatten, auf denen sich die Speisen stapelten, die wie Lilien geformten Weinkelche, das blendend weiße Tafelleinen. Am Ende des Saals befanden sich zwei breite Fenster, die von schweren Samtvorhängen umrahmt wurden. Vor einem der Fenster stand Jace – so reglos, dass Clary ihn erst für eine Statue hielt, bis sie erkannte, dass sich das Licht in seinen hellen Haaren brach. Mit der linken Hand hielt er einen der Vorhänge beiseite und in der dunklen Fläche des Fensters sah Clary die Reflexion von Dutzenden Kerzen, die im Raum verteilt waren – Lichtspiegelungen, die wie Glühwürmchen im Glas der Scheibe gefangen schienen.
»Jace.« Sie hörte ihre eigene Stimme wie aus großer Ferne; Erstaunen und Dankbarkeit schwangen darin mit und eine Sehnsucht, die so stark war, dass es wehtat. Er ließ den Vorhang sinken und drehte sich um, ein verblüffter Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit.
»Jace!«, rief sie erneut und rannte auf ihn zu. Er fing sie auf, als sie sich ihm in die Arme warf, und drückte sie fest an sich.
»Clary.« Seine Stimme klang vollkommen verändert, war fast nicht wiederzuerkennen. »Clary, was tust du denn hier?«
»Ich bin deinetwegen hier«, erwiderte sie, halb erstickt und gegen sein Hemd gedrückt.
»Das hättest du nicht tun sollen.« Plötzlich löste er sich von ihr und hielt sie auf Armeslänge von sich, um sie betrachten zu können. »Großer Gott«, murmelte er und berührte ihr Gesicht. »Du Närrin. Was für eine verrückte Idee.« Seine Stimme klang nun zornig, doch sein Blick strich zärtlich über ihre Züge und seine Finger schoben behutsam eine ihrer roten Locken nach hinten. Nie zuvor hatte sie ihn auf diese Weise gesehen: Er strahlte eine ungeheure Zerbrechlichkeit aus, als hätte ihn jemand zutiefst verletzt. »Warum denkst du eigentlich nie nach?«, flüsterte er.
»Aber ich habe doch nachgedacht«, entgegnete sie. »Ich habe an dich gedacht.«
Einen kurzen Moment lang schloss er die Augen. »Wenn dir irgendwas zugestoßen wäre …« Seine Finger fuhren zärtlich über ihre Arme, bis hinunter zu den Handgelenken, als müsse er sich vergewissern, dass sie wirklich vor ihm stand. »Wie hast du mich gefunden?«
»Luke«, erwiderte sie. »Ich bin mit Luke gekommen. Um dich zu retten.«
Während er sie noch immer festhielt, ging sein Blick zum Fenster und seine Mundwinkel verzogen sich missbilligend. »Also sind das … du bist mit dem Wolfsrudel gekommen?«, fragte er mit einem seltsamen Unterton in der Stimme.
»Es ist Lukes Rudel«, erklärte sie. »Er ist ein Werwolf und …«
»Ich weiß«, schnitt Jace ihr das Wort ab. »Ich hätte es wissen müssen – die Handfesseln.« Dann blickte er schnell zur Tür. »Wo ist er jetzt?«
»Unten«, antwortete Clary langsam. »Er hat Blackwell getötet. Ich bin hier heraufgekommen, um dich zu suchen …«
»Er muss sie zurückrufen«, forderte Jace.
Sie blickte ihn verständnislos an. »Was?«
»Luke«, sagte Jace. »Er muss sein Rudel zurückrufen. Das Ganze ist ein Missverständnis.«
»Was soll das heißen? Hast du dich etwa selbst entführt?« Sie hatte es halb scherzhaft sagen wollen, aber der Satz kam wie gepresst aus ihrem Mund. »Komm schon, Jace.«
Sie versuchte, ihn am Handgelenk mit sich zu ziehen, doch er gab nicht nach. Stattdessen schaute er sie forschend an und ihr wurde plötzlich etwas bewusst, was ihr in ihrer ersten Erleichterung gar nicht aufgefallen war.
Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er mit Schnittwunden und Prellungen übersät gewesen, seine Kleidung hatte vor Schmutz und Blut gestarrt und sein Haar war völlig verklebt gewesen von Staub und Wundsekret. Doch jetzt trug er ein weites weißes Hemd und dunkle Hosen und sein frisch gewaschenes, flachsblondes Haar fiel ihm locker ins Gesicht. Als er mit seiner schlanken Hand eine widerspenstige Strähne zur Seite strich, bemerkte Clary, dass der schwere Silberring wieder an seinem Finger steckte.
»Sind das deine Sachen?«, fragte sie verblüfft. »Und … du bist ja komplett verarztet worden …« Ihre Stimme verstummte langsam. »Valentin scheint sich ja wirklich sehr um dich zu kümmern.«
Er schenkte ihr ein trauriges und zugleich liebevolles Lächeln. »Wenn ich dir die Wahrheit sage, wirst du mich für verrückt halten«, meinte er.
Sie spürte ihr Herz in ihrer Brust pochen, so schnell wie den Flügelschlag eines Kolibris. »Ganz bestimmt nicht.« »Mein Vater hat mir diese Sachen gegeben«, sagte er.
Das Pochen verwandelte sich in ein lautes Wummern. »Jace«, setzte sie vorsichtig an, »dein Vater ist tot.«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. Sie hatte das Gefühl, dass er eine tiefe, intensive Gefühlsregung unterdrückte, etwas wie Entsetzen oder Entzücken – oder beides. »Das habe ich bisher auch gedacht, aber es stimmt nicht. Das alles war nur ein Missverständnis.«
Clary erinnerte sich daran, was Hodge über Valentin erzählt hatte, über seine Fähigkeit, gewinnende und glaubhaft klingende Lügen zu erzählen. »Hat Valentin dir das vielleicht eingeredet? Er ist ein Lügner, Jace. Erinnere dich daran, was Hodge gesagt hat. Wenn Valentin behauptet, dass dein Vater noch lebt, dann nur, um von dir alles zu bekommen, was er will.«
»Ich habe meinen Vater gesehen«, erwiderte Jace. »Ich habe mit ihm gesprochen. Und er hat mir das hier gegeben.« Er zupfte an seinem neuen, sauberen Hemd, als ob es sich dabei um einen unwiderlegbaren Beweis handelte. »Mein Vater ist nicht tot. Valentin hat ihn nicht umgebracht. Hodge hat mich belogen. All die Jahre habe ich geglaubt, er wäre tot, aber das stimmte nicht.«
Clary schaute sich hastig in dem Raum um, mit seinem glänzenden Porzellan, den flackernden Fackeln und den funkelnden, leeren Spiegeln. »Wenn dein Vater wirklich hier ist, wo steckt er dann? Hat Valentin ihn auch entführt?«
Jace’ Augen leuchteten. Sein Hemdkragen stand offen und sie konnte die dünnen weißen Narben auf seinem Schlüsselbein erkennen, wie Risse auf seiner glatten gebräunten Haut. »Mein Vater …«
Mit einem lauten Quietschen schwang die Tür auf, die Clary hinter sich zugezogen hatte, und ein Mann betrat den Saal.
Es war Valentin. Sein silbernes, kurz geschorenes Haar leuchtete wie ein polierter Stahlhelm und ein harter Zug umspielte seine Lippen. An einer Seite seines breiten Gürtels hing eine Scheide, aus der am oberen Ende der Griff eines langen Schwerts herausragte. »Und«, fragte er, eine Hand auf das Heft gelegt, »hast du deine Sachen zusammengesucht? Unsere Forsaken werden die Wolfsmenschen nicht ewig aufhalten …«
Als er Clary erblickte, unterbrach er sich mitten im Satz. Er war kein Mann, der sich von irgendetwas völlig überrumpeln ließ, doch sie sah ein kurzes Erstaunen in seinen Augen aufflackern. »Wer ist das?«, fragte er und schaute Jace dabei an.