Doch Clary griff bereits an ihre Hüfte, auf der Suche nach ihrem Dolch. Sie fasste ihn am Heft, zerrte ihn aus seiner Scheide und holte zum Wurf aus. Blinde Wut pochte in ihrem Kopf wie ein Trommelwirbel. Sie konnte diesen Mann töten. Sie würde ihn töten.
Jace umfasste ihr Handgelenk. »Nicht.«
»Aber Jace …«, sagte sie ungläubig.
»Clary«, unterbrach er sie mit fester Stimme. »Das ist mein Vater.«
23
Valentin
»Oh, ich störe wohl gerade«, meinte Valentin trocken. »Hättest du die Güte, mein Sohn, mir zu sagen, wer das ist? Vielleicht eines der Lightwood-Kinder?«
»Nein«, sagte Jace. Er klang müde und unglücklich, hielt Clary aber weiterhin am Handgelenk fest. »Das ist Clary. Clarissa Fray. Sie ist eine Freundin. Sie …«
Valentins schwarze Augen musterten sie langsam, von ihren zerzausten Haaren bis zu den Spitzen ihrer verschlissenen Turnschuhe, und blieben schließlich an dem Dolch in ihrer Hand hängen.
Ein undefinierbarer Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus – teils Belustigung, teils Verärgerung. »Woher hast du diese Waffe junges Fräulein?«
»Jace gab sie mir«, erwiderte Clary kalt.
»Natürlich«, sagte Valentin in mildem Ton. »Darf ich den Dolch mal sehen?«
»Nein!« Clary wich einen Schritt zurück, als fürchtete sie, er würde sich auf sie stürzen. Doch im nächsten Moment spürte sie, wie ihr die Waffe aus den Fingern gewunden wurde. Jace warf ihr einen entschuldigenden Blick zu; er hielt den Dolch in der Hand. »Jace«, zischte sie und in ihrer Stimme schwang die Enttäuschung mit, die sie angesichts dieses Verrats empfand. »Du verstehst noch immer nicht, Clary«, erwiderte er nur und ging auf Valentin zu. »Hier bitte, Vater«, sagte er derart ehrerbietig, dass Clary sich der Magen umdrehte, und reichte ihm die Waffe.
Valentin nahm den Dolch in seine große, langgliedrige Hand und betrachtete ihn. »Das ist ein kindjal, ein tscherkessischer Dolch. Dieser hier ist Teil eines speziell gefertigten Paares. In die Klinge ist das Zeichen der Morgensterns eingraviert. Hier, siehst du?« Er drehte den Dolch und zeigte ihn Jace. »Es überrascht mich, dass die Lightwoods das nicht bemerkt haben.«
»Ich habe ihnen den Dolch nicht gezeigt«, erklärte Jace. »Und sie haben nicht in meinen Privatsachen herumgeschnüffelt.« »Natürlich nicht«, bestätigte Valentin. Er gab Jace den kindjal zurück. »Schließlich dachten sie, du wärst Michael Waylands Sohn.«
Jace schob den Dolch mit dem roten Knauf in seinen Gürtel. »Das habe ich auch gedacht«, sagte er leise und in diesem Moment erkannte Clary, dass es sich nicht um einen Scherz handelte, dass Jace nicht einfach gute Miene zum bösen Spiel machte, während er seine eigenen Ziele verfolgte. Er dachte ernsthaft, dass Valentin sein verloren geglaubter Vater sei, der nun zu ihm zurückgekehrt war.
Eine kalte Verzweiflung erfasste Clary. Wenn Jace wütend gewesen wäre oder feindselig, damit hätte sie umgehen können. Doch dieser neue Jace, zerbrechlich und strahlend vor Glück über das ihm widerfahrene Wunder, kam ihr wie ein Fremder vor.
Valentin schaute an Jace vorbei zu Clary; seine Augen funkelten vor Belustigung. »Vielleicht wäre das jetzt der richtige Moment, sich hinzusetzen, Clary?«
Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Nein.« »Wie du willst.« Valentin zog einen Stuhl heran und ließ sich am Kopfende des Tischs nieder. Jace zögerte einen Moment, setzte sich dann aber neben ihn. Vor ihm auf dem Tisch stand eine halb leere Flasche Wein. »Aber du wirst ein paar Dinge zu hören bekommen, die möglicherweise dafür sorgen, dass du wünschst, du hättest dich hingesetzt.« »Ich lass es dich wissen, wenn es so weit ist«, entgegnete Clary kühl.
»Schön.« Valentin lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Der Kragen seines Hemds öffnete sich leicht, sodass seine vernarbten Schlüsselbeine zum Vorschein kamen. Von Malen übersät, genau wie die seines Sohnes, wie die aller Nephilim. Ein Leben voller Narben und Töten, hatte Hodge gesagt. »Clary«, sagte Valentin, als koste er den Klang ihres Namens auf seiner Zunge. »Eine Kurzform von Clarissa? Kein Name, den ich ausgewählt hätte.« Ein spöttisches Grinsen umspielte seine Lippen. Er weiß, dass ich seine Tochter bin, dachte Clary. Irgendwoher weiß er es. Aber er sagt es nicht. Warum hält er diese Information zurück? Wegen Jace, erkannte sie plötzlich. Jace würde denken … sie wollte sich gar nicht vorstellen, was er denken würde.
Valentin hatte beim Betreten des Saals gesehen, wie Jace und sie sich umarmt hatten; er musste wissen, welch brisante Information er damit in den Händen hielt. Irgendwo hinter diesen unergründlichen Augen arbeitete sein scharfer Verstand fieberhaft, versuchte er abzuschätzen, wie er sein Wissen am besten nutzen konnte.
Erneut warf Clary Jace einen flehentlichen Blick zu, aber er starrte auf ein Weinglas, das zur Hälfte mit einer purpurrot schimmernden Flüssigkeit gefüllt war. Sie sah, wie sich seine Brust mit jedem Atemzug rasch hob und senkte; er war bestürzter, als er zugeben wollte.
»Es interessiert mich nicht, welchen Namen du ausgewählt hättest«, sagte Clary.
»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Valentin und beugte sich vor.
»Außerdem bist du nicht Jace’ Vater. Du versuchst nur, uns reinzulegen«, fuhr sie fort. »Michael Wayland war sein Vater. Die Lightwoods wissen das. Alle wissen das.«
»Die Lightwoods waren falsch unterrichtet«, entgegnete Valentin. »Sie haben wahrhaftig geglaubt – geglaubt –, dass Jace der Sohn ihres Freundes Michael ist. Das Gleiche gilt für den Rat. Nicht einmal die Stillen Brüder kennen seine wahre Identität. Aber es wird nicht mehr lange dauern, bis sie es erfahren.«
»Aber der Ring der Familie Wayland …«
»Richtig, der Ring«, sagte Valentin und warf einen Blick auf Jace’ Hand, wo der Ring wie die schillernde Haut einer Schlange funkelte. »Ist es nicht lustig, dass ein M, auf den Kopf gestellt, einem W täuschend ähnlich sieht? Wenn du dir natürlich die Mühe gemacht hättest, einmal genauer darüber nachzudenken, wäre es dir wahrscheinlich merkwürdig erschienen, dass die Waylands eine Sternschnuppe als Wappen gewählt haben sollten. Dagegen passt dieses Symbol perfekt zum Namen der Familie Morgenstern.«
Clary starrte ihn an. »Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.«
»Entschuldige, ich vergaß, wie bedauernswert unvollkommen die Bildung der Irdischen ist«, spottete Valentin.
»Morgenstern – so wie in ›Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern! Wie wurdest du zu Boden geschlagen, der du alle Völker niederschlugst!‹«
Clary lief es eiskalt über den Rücken. »Du spielst auf Satan an.«
»Oder auf jeden anderen großen Machtverlust, den man in Kauf nimmt, wenn man sich weigert, anderen zu dienen«, entgegnete Valentin. »So wie bei mir. Ich war nicht gewillt, einer korrupten Regierung zu dienen, und dafür verlor ich meine Familie, meine Ländereien und fast mein Leben …« »Du trägst die Schuld für den Aufstand!«, fauchte Clary.
»Deinetwegen sind viele Menschen gestorben! Schattenjäger wie du!«
»Clary.« Jace beugte sich vor und stieß dabei fast das Weinglas mit dem Ellbogen um. »Hör ihm einfach nur zu, okay? Es ist nicht so, wie du denkst. Hodge hat uns belogen.« »Ich weiß«, sagte Clary. »Er hat uns an Valentin verraten. Er war Valentins Marionette.«
»Nein«, sagte Jace. »Nein, Hodge wollte den Kelch der Engel all die Jahre für sich. Er hat die Ravener ausgeschickt, um deine Mutter zu holen. Mein Vater … Valentin erfuhr erst später davon und kam hierher, um ihn aufzuhalten. Er hat
deine Mutter in dieses Haus gebracht, um sie zu heilen, nicht um ihr wehzutun.«