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»Wie Mekka oder Jerusalem«, meinte Clary nachdenklich. »Die meisten von euch sind also in Idris aufgewachsen. Und was passiert, wenn ihr erwachsen seid?«

»Dann werden wir dahin geschickt, wo man uns braucht«, ergänzte Jace knapp. »Es gibt auch ein paar, wie Isabelle und Alec, die weit von der Heimat entfernt aufwachsen, weil ihre Eltern außerhalb des Landes wohnen. Aber mit all den Mitteln, die dieses Institut bietet, und mit Hodges Unterricht …« Er unterbrach sich. »So, da wären wir: Das hier ist die Bibliothek.«

Sie standen vor einer spitzbogigen Doppelflügeltür. Ein blauer Perserkater mit gelben Augen lag zusammengerollt davor. Er hob den Kopf und maunzte. »Hi, Church«, begrüßte Jace den Kater und streichelte ihn mit dem nackten Fuß. Genüsslich kniff Church die Augen zu Schlitzen zusammen.

»Warte mal einen Moment«, sagte Clary. »Alec, Isabelle und Max sind also die einzigen dir bekannten Schattenjäger deines Alters – die einzigen, zu denen du Kontakt hast?« Jace hörte auf, den Kater zu streicheln. »Ja.«

»Fühlt man sich da nicht manchmal ein wenig einsam?«

»Ich habe alles, was ich brauche.« Er stieß die Türflügel auf. Nach kurzem Zögern folgte Clary ihm.

Die Bibliothek war ein kreisförmiger Saal, dessen Decke sich nach oben hin verjüngte, als wäre der Raum innerhalb eines Turms errichtet. Die Wände wurden von hohen Bücherregalen gesäumt; in regelmäßigen Abständen boten lange Leitern auf Laufrollen Zugang zu den obersten Regalböden. Bei den Büchern handelte es sich nicht um herkömmliche Exemplare, sondern um schwere Folianten, in Leder und Samt gebunden und mit robusten Schlössern und Scharnieren aus Messing und Silber versehen. Die Buchrücken waren mit sanft schimmernden Edelsteinen besetzt und trugen illuminierte Goldlettern. Sie wirkten alt und abgegriffen, wie Bücher, die oft und gerne in die Hand genommen wurden.

Der Boden bestand aus poliertem Parkett mit Intarsien aus Glas, Marmor und Halbedelstein. Die Einlegearbeiten bildeten ein Muster, das Clary nicht ganz zu deuten vermochte – möglicherweise handelte es sich um Sternbilder oder eine Weltkarte. Sie hätte in die Spitze des Turms hinaufsteigen müssen, um es richtig zu erkennen.

In der Mitte des Raums stand ein prächtiger Schreibtisch. Er war aus einem einzigen großen Holzblock gefertigt, massives, schweres Eichenholz, dessen matter Glanz sein Alter verriet. Die Platte ruhte auf den Rücken zweier Engel, aus demselben Holz geschnitzt und mit vergoldeten Flügeln und so leidvollen Gesichtszügen versehen, als laste die Platte schwer auf ihnen. Hinter dem Schreibtisch saß ein dünner Mann mit grau meliertem Haar und langer Adlernase.

»Eine Bücherfreundin, wie ich sehe«, sagte er und lächelte Clary freundlich an. »Davon hast du mir gar nichts erzählt, Jace.«

Jace musste leise lachen. Clary war sich sicher, dass er dicht hinter ihr stand, die Hände in den Taschen und einmal mehr dieses aufreizende Grinsen im Gesicht. »Im Laufe unserer kurzen Bekanntschaft haben wir noch nicht viele Worte gewechselt«, erklärte er. »Ich fürchte, unsere Lesegewohnheiten sind bisher nicht zur Sprache gekommen.«

Clary drehte sich um und funkelte ihn wütend an. Dann wandte sie sich an den Mann am Schreibtisch: »Woran haben Sie das erkannt? Ich meine, dass ich Bücher liebe.«

»Das konnte man deiner Miene ansehen, als du hereinkamst«, erklärte er, stand auf und ging um den Schreibtisch herum auf sie zu. »Irgendwie hatte ich meine Zweifel, dass mein Anblick dich derartig beeindruckt hat.«

Als er sich erhob, hätte Clary fast nach Luft geschnappt. Einen Moment lang erschien er ihr seltsam missgestaltet, als sei die linke Schulter bucklig und höher als die andere. Doch als er näher kam, sah sie, dass es sich bei dem »Buckel« um einen Vogel handelte, der ruhig auf seiner linken Schulter thronte – ein schillernd schwarz gefiedertes Geschöpf mit glänzend schwarzen Augen.

»Darf ich dir Hugo vorstellen?«, fragte der Mann und streichelte den Vogel auf seiner Schulter. »Hugo ist ein Rabe und weiß als solcher von vielen Dingen. Und ich bin Hodge Starkweather, Geschichtsprofessor, und weiß als solcher nicht annähernd genug.«

Clary musste unwillkürlich kichern und ergriff seine ausgestreckte Hand. »Clary Fray.«

»Es ist mir eine Ehre, deine Bekanntschaft zu machen«, erwiderte er. »Schließlich gibt es nur ganz wenige, die einen Ravener mit bloßen Händen erwürgen können.«

»Das waren gar nicht meine Hände.« Es erschien ihr immer noch merkwürdig, für das Töten eines Wesens gelobt zu werden. »Es war dieses Ding von Jace – ich weiß nicht mehr, wie es hieß, aber …«

»Sie meint meinen Sensor«, erklärte Jace. »Sie hat ihn dem Ravener in die Kehle gerammt. Wahrscheinlich ist er an den Runen erstickt. Ich schätze, ich brauche jetzt wohl einen neuen«, fügte er fast nachdenklich hinzu.

»In der Waffenkammer liegen noch ein paar«, versicherte ihm Hodge. Wenn er lächelte, erschienen in seinen Augenwinkeln Tausende kleiner Linien, wie Risse in einem alten Gemälde. »Das war wirklich geistesgegenwärtig. Wie bist darauf gekommen, den Sensor als Waffe zu benutzen?«

Noch ehe sie antworten konnte, lachte jemand im Raum kurz auf. Clary war so fasziniert von den Büchern gewesen, dass sie Alec, der in einem dick gepolsterten roten Lehnsessel am Kamin herumlungerte, übersehen hatte. »Die Geschichte wirst du ihr ja wohl nicht abkaufen, Hodge«, sagte er.

Im ersten Moment drangen seine Worte nicht zu Clary durch. Sie war zu sehr damit beschäftigt, ihn genau zu mustern. Wie viele Einzelkinder war auch Clary von der Ähnlichkeit zwischen Geschwistern fasziniert; nun, bei Tageslicht, konnte sie die große äußerliche Übereinstimmung zwischen Alec und seiner Schwester noch deutlicher erkennen. Sie hatten beide rabenschwarzes Haar, schmale, geschwungene Augenbrauen und dieselbe blasse Haut. Aber während Isabelle eine arrogante Haltung an den Tag legte, hing Alec tief im Sessel, als wolle er von niemandem bemerkt werden. Er hatte lange dunkle Wimpern wie seine Schwester, doch im Gegensatz zu ihren schwarzen Augen leuchteten seine dunkelblau. Sie starrten Clary mit unverhohlener, konzentrierter Feindseligkeit an.

»Was willst du damit sagen, Alec?« Hodge zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Clary fragte sich, wie alt er sein mochte; trotz seiner grauen Strähnen hatte er etwas Altersloses an sich. Er trug einen eleganten, tadellos gebügelten grauen Tweedanzug. Ohne die breite Narbe, die sich über seine rechte Gesichtshälfte erstreckte, hätte er sicher wie ein freundlicher Collegeprofessor gewirkt. Sie fragte sich, wie er sie sich wohl zugezogen hatte. »Willst du behaupten, sie hat den Dämonen gar nicht getötet?«, hakte Hodge nach.

»Natürlich hat sie das nicht. Man muss sie sich doch nur mal ansehen – sie ist eine Mundie, Hodge, und dazu noch eine halbe Portion, ein Kind. Gegen einen Ravener hätte sie gar keine Chance.«

»Ich bin kein Kind«, unterbrach Clary ihn, »sondern fast sechzehn – nächsten Sonntag ist mein Geburtstag.«

»Also genauso alt wie Isabelle«, sinnierte Hodge. »Würdest du Isabelle als Kind bezeichnen, Alec?«

»Isabelle entstammt einer der größten Schattenjägerdynastien aller Zeiten«, konterte Alec, »aber dieses Mädchen hier ist aus New Jersey.«

»Aus Brooklyn«, protestierte Clary wütend. »Na und? Ich habe einen Dämon in meinen eigenen vier Wänden getötet und jetzt kommst du und plusterst dich auf, nur weil ich kein verwöhntes reiches Balg bin wie du und deine Schwester?«

Alec schaute verblüfft. »Wie hast du mich genannt?«

Jace lachte. »Clary liegt gar nicht mal so falsch«, sagte er, »gerade bei diesen Vorstadt-Dämonen muss man höllisch aufpassen …«

»Sehr witzig, Jace!« Alec sprang wütend auf. »Du findest es anscheinend okay, dass sie mich beleidigt?«