»Ja«, erwiderte Jace liebenswürdig. »Das tut dir nämlich gut. Betrachte es einfach als Trainingsmaßnahme.«
»Jace, wir mögen zwar Parabatai sein«, stieß Alec zwischen zusammengepressten Lippen hervor, »aber deine leichtfertige Art strapaziert wirklich meine Geduld.«
»Und deine Dickköpfigkeit geht mir auf die Nerven. Als ich sie fand, lag sie in einer Blutlache am Boden, mit dem verendenden Dämon halb auf ihr. Ich habe zugesehen, wie er sich aufgelöst hat. Wenn sie ihn nicht umgebracht hat, wer dann?«
»Ravener sind dämlich; vielleicht hat er sich mit dem Stachel in den eigenen Nacken gestochen. Das wäre ja nicht das erste Mal …«
»Willst du uns jetzt erzählen, er habe Selbstmord begangen?«
»Es ist jedenfalls nicht richtig, dass sie hier ist«, konterte Alec verbissen. »Mundies dürfen nicht ins Institut, aus gutem Grund. Wenn jemand davon erfährt, könnte er uns beim Rat anzeigen.«
»Wobei man nicht vergessen darf, dass wir laut Gesetz in bestimmten Fällen auch Irdischen Schutz bieten dürfen«, stellte Hodge richtig. »Ein Ravener hatte bereits Clarys Mutter angefallen – folglich hätte sie die Nächste sein können.«
Angefallen. Clary fragte sich, ob das eine wohlwollende Umschreibung für »ermordet« war. Der Rabe auf Hodges Schulter krächzte leise.
»Ravener sind Killermaschinen«, sagte Alec, »sie handeln auf Befehl von Hexenmeistern oder mächtigen Dämonenfürsten. Aber warum sollte sich ein Hexenmeister oder Dämonenfürst für eine stinknormale Irdische interessieren?« Er starrte Clary unverhohlen feindselig an. »Kannst du mir das mal verraten?«
»Vielleicht war es einfach ein Versehen.«
»Dämonen machen keine solchen Fehler. Wenn sie hinter deiner Mutter her waren, muss es dafür einen Grund gegeben haben. Denn wenn sie unschuldig gewesen wäre …«
»Was soll das heißen, ›unschuldig‹?«, fragte Clary mit eisiger Stimme.
Alec schaute betroffen. »Ich …«
»Er will damit nur sagen«, warf Hodge ein, »dass es sehr ungewöhnlich ist, dass ein mächtiger Dämon, einer, der möglicherweise eine ganze Schar niederer Dämonen befehligt, sich für Angelegenheiten der Menschen interessiert. Kein Irdischer kann einen Dämon heraufbeschwören, dazu fehlt den Menschen die Macht. Aber es hat schon einige gegeben, die verwegen und dumm genug waren, eine Hexe oder einen Hexenmeister damit zu beauftragen.«
»Meine Mutter kennt weder Hexenmeister, noch glaubt sie an Magie«, erwiderte Clary. Dann fiel ihr etwas ein: »Madame Dorothea aus dem Erdgeschoss ist eine Hexe. Vielleicht hatten es die Dämonen auf sie abgesehen und haben zufällig meine Mutter erwischt?«
Überrascht zog Hodge die Augenbrauen hoch. »Bei euch im Erdgeschoss wohnt eine Hexe?«
»Nur so eine Stümperin, keine echte Hexe«, sagte Jace. »Ich hab das schon überprüft. Bei ihr gibt’s für Hexenmeister nichts zu holen, es sei denn, sie interessieren sich für defekte Kristallkugeln.«
»Womit wir wieder am Anfang stehen.« Hodge streichelte den Vogel auf seiner Schulter. »Es ist wohl das Beste, den Rat zu benachrichtigen.«
»Nein!«, rief Jace. »Wir können nicht …«
»Solange wir nicht wussten, ob Clary genesen würde, war es sinnvoll, ihre Anwesenheit geheim zu halten«, erklärte Hodge. »Aber jetzt ist sie gesund und damit die erste Irdische seit über einhundert Jahren, die das Institut betritt. Du weißt ja, was für Irdische gilt, die von Schattenjägern erfahren, Jace. Der Rat muss benachrichtigt werden.«
»Auf jeden Fall«, stimmte Alec zu. »Ich könnte meinem Vater eine Nachricht zukommen lassen …«
»Sie ist aber keine Irdische«, sagte Jace leise.
Hodges Augenbrauen schnellten bis zum Haaransatz empor. Alec unterbrach seinen Satz und schnappte verblüfft nach Luft. In der plötzlichen Stille konnte Clary hören, wie Hugo sein Gefieder schüttelte. »Doch, doch, ich bin eine Irdische«, sagte sie schließlich.
»Nein.« Jace wandte sich zu Hodge und Clary beobachtete, wie er schluckte. Seltsamerweise übte dieses kleine Anzeichen von Nervosität eine beruhigende Wirkung auf sie aus. »An jenem Abend tauchten plötzlich Du’sien-Dämonen auf, als Polizisten verkleidet. Wir mussten an ihnen vorbei. Clary war zu schwach, um zu laufen, und verstecken konnten wir uns auch nicht, weil jeder Zeitverlust ihren Tod bedeutet hätte. Also nahm ich meine Stele … und brannte ihr eine Medelin- Rune in den Arm. Ich dachte …«
»Hast du denn den Verstand verloren?« Hodges Hand schlug so hart auf den Tisch, dass Clary fürchtete, die Platte würde zerbersten. »Du weißt doch, dass das Gesetz es verbietet, Irdische mit einem Mal zu versehen! Gerade du müsstest das wissen!«
»Aber es hat funktioniert«, wandte Jace ein. »Clary, zeig ihnen deinen Arm.«
Clary starrte ihn verblüfft an und streckte dann den Arm aus. Sie erinnerte sich daran, wie verletzlich er ihr erschienen war, als sie ihn in jener Nacht hinter den Rosensträuchern betrachtet hatte. Genau oberhalb des Handgelenks sah sie jetzt drei einander überschneidende Kreise, dünn und verblasst wie eine längst vergessene, uralte Narbe. »Seht ihr, fast schon weg«, stellte Jace fest, »es hat ihr überhaupt nicht geschadet.«
»Darum geht es nicht.« Hodge beherrschte sich nur mit Mühe. »Du hättest sie in eine Forsaken verwandeln können!«
Alecs Wangen glühten rot vor Erregung. »Jace, das glaube ich einfach nicht. Nur Schattenjäger können Bündnis-Male tragen – Irdische sterben daran …«
»Hör mir doch mal richtig zu: Sie ist keine Irdische. Deshalb konnte sie uns auch sehen. Sie hat mit Sicherheit Schattenjägerblut in ihren Adern.«
Clary senkte den Arm; plötzlich fror sie. »Aber das … nein, unmöglich.«
»Doch, bestimmt«, sagte Jace, ohne sie anzusehen. »Sonst hätte das Mal, das ich auf deinen Arm …«
»Es reicht, Jace«, unterbrach Hodge ihn zornig. »Du brauchst ihr nicht noch mehr Angst einzujagen.«
»Aber ich hatte recht, oder? Das würde auch erklären, was mit ihrer Mutter passiert ist. Wenn sie eine Schattenjägerin im Exil war, hatte sie vielleicht Feinde in der Schattenwelt.«
»Meine Mutter war keine Schattenjägerin!«
»Aber vielleicht dein Vater«, erwiderte Jace. »Was weißt du über ihn?«
Clary erwiderte seinen Blick mit verschlossener Miene. »Er ist gestorben, ehe ich zur Welt kam.«
Jace zuckte fast unmerklich zusammen.
Nun meldete Alec sich wieder zu Wort. »Es wäre möglich«, sinnierte er. »Wenn ihr Vater Schattenjäger war und ihre Mutter weltlich – okay, es verstößt bekanntermaßen gegen das Gesetz, Mundies zu heiraten. Aber vielleicht haben sie sich versteckt.«
»Das hätte meine Mutter mir aber gesagt«, entgegnete Clary. Doch dann dachte sie daran, dass es nur ein Foto von ihrem Vater gab und ihre Mutter nie von ihm sprach, und begann, an ihren eigenen Worten zu zweifeln.
»Nicht unbedingt«, meinte Jace, »wir haben alle unsere Geheimnisse.«
»Luke, unser Freund«, fiel Clary ein, »der könnte es wissen.« Beim Gedanken an Luke erschrak sie; ihr schlechtes Gewissen meldete sich siedend heiß. »Das Ganze ist schon drei Tage her – er ist bestimmt verrückt vor Sorge. Kann ich ihn anrufen, habt ihr ein Telefon?« Sie blickte Jace an. »Bitte.«
Jace zögerte und schaute zu Hodge hinüber; der nickte und räumte seinen Platz am Schreibtisch. Hinter ihm stand ein aus Kupfer getriebener Globus, der allerdings nicht ganz so aussah wie die Weltkugeln, die Clary kannte; die Umrisse der Länder und Kontinente waren irgendwie anders. Daneben thronte ein altmodisches schwarzes Telefon mit silberner Wählscheibe. Clary nahm den Hörer in die Hand; das vertraute Freizeichen war für sie wie Balsam.
Nach dem dritten Klingeln nahm Luke ab. »Hallo?«
»Luke!« Sie ließ sich gegen den Schreibtisch sinken. »Ich bin’s, Clary.«
»Clary.« Sie hörte Erleichterung aus seiner Stimme heraus, aber noch etwas anderes, das sie nicht einordnen konnte. »Ist alles in Ordnung mit dir, Clary?«