»Warum gerade jetzt?«
»Wegen des Abkommens.«
»Wegen der Friedensverhandlungen? Jace hat sie erwähnt, aber Frieden mit wem denn?«
»Mit den Schattenwesen«, murmelte Hodge. Er musterte Clary besorgt. »Entschuldige, das ist sicher verwirrend für dich.«
»Meinen Sie?«
Er lehnte sich gegen den Schreibtisch und streichelte abwesend Hugos Federkleid.
»Die Schattenwesen sind die, mit denen wir uns die Verborgene Welt teilen. Seit Menschengedenken haben wir in einem zweifelhaften Frieden mit ihnen gelebt.«
»Sie meinen Vampire, Werwölfe und …«
»Das Lichte Volk«, erläuterte Hodge, »Feenwesen. Und als Halbdämonen zählen auch Liliths Kinder dazu, die Hexenmeister.«
»Und was sind die Schattenjäger?«
»Wir werden manchmal auch Nephilim genannt«, erklärte Hodge. »Der Bibel zufolge entspringen wir der Verbindung von Menschen und Engeln. Angeblich entstanden die Schattenjäger vor vielen Tausend Jahren, als die Menschheit von Dämoneninvasionen aus anderen Welten überrannt wurde. Ein Hexenmeister beschwor den Erzengel Raziel herauf; dieser vermengte sein eigenes Blut mit dem Blut von Menschen in einem Kelch und ließ die Menschen davon trinken. Diejenigen, die von dem Engelsblut getrunken hatten, wurden zu Schattenjägern, genau wie ihre Kinder und Kindeskinder. Das Gefäß, in dem Raziel das Blut mischte, wurde später als der ›Kelch der Engel‹ bekannt. Die Legende mag vielleicht nicht den Tatsachen entsprechen, aber seither konnten – wenn es an Schattenjägern fehlte – unsere Reihen stets mithilfe des Kelchs wieder geschlossen werden.«
»Konnten – und jetzt geht das nicht mehr?«
»Der Kelch existiert nicht länger. Valentin hat ihn kurz vor seinem Tod vernichtet. Er hat sein Haus angezündet und sich und seine Familie verbrannt, seine Frau und sein Kind. Sein Land ist verkohlt. Noch immer will niemand dort wohnen. Es heißt, es sei verflucht.«
»Stimmt das denn?«
»Möglicherweise. Der Rat bestraft Gesetzesübertretungen manchmal mit Verwünschungen. Valentin hat gegen das wichtigste Gebot verstoßen: Er hat das Schwert gegen seine eigenen Brüder, die Schattenjäger, erhoben und sie umgebracht. Er und seine Verbündeten, der Kreis, haben zu der Zeit des letzten Abkommens Dutzende ihrer eigenen Brüder und Hunderte von Schattenwesen getötet. Sie konnten nur knapp besiegt werden.«
»Aber warum hat er die anderen Schattenjäger angegriffen?«
»Er lehnte das Abkommen ab. Er verachtete die Schattenwesen und fand, sie müssten alle abgeschlachtet werden, um die Welt für die Menschen zu reinigen. Obwohl Schattenwesen keine Dämonen oder Invasoren sind, fand er, sie seien vom Ursprung her dämonisch, und das reichte ihm. Der Rat war anderer Meinung – er glaubte, man bräuchte die Hilfe der Schattenwesen, um die Dämonen ein für alle Mal besiegen zu können. Und da das Lichte Volk schon länger auf dieser Welt weilt als wir, kann man auch kaum behaupten, sie gehörten nicht hierher.«
»Ist denn das Abkommen geschlossen worden?«
»Ja, es wurde unterzeichnet. Als die Schattenwesen sahen, wie der Rat sie verteidigte und sich gegen Valentin und seinen Kreis stellte, erkannten sie, dass die Schattenjäger nicht ihre Feinde waren. So hat Valentin durch seine Rebellion ungewollt das Abkommen erst ermöglicht.« Hodge setzte sich wieder auf den Stuhl. »Entschuldige, das ist für dich wahrscheinlich nur trockener Geschichtsstoff. Tja, so war Valentin. Ein Unruhestifter, ein Visionär, ein Mann mit viel Charme und Charisma. Und ein Killer. Nun bedient sich jemand seines Namens …«
»Aber wer?«, fragte Clary. »Und was hat meine Mutter damit zu tun?«
Hodge erhob sich erneut. »Ich weiß es nicht. Aber ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um das herauszufinden. Ich muss gleich eine Nachricht an den Rat und die Bruderschaft schicken. Die Stillen Brüder werden wahrscheinlich mit dir reden wollen.«
Clary fragte nicht, um was für Stille Brüder es sich handelte. Sie war es leid, eine Frage nach der anderen zu stellen, deren Antwort sie nur noch mehr verwirrte. Sie stand auf. »Darf ich denn jetzt nach Hause?«
Hodge schaute besorgt drein. »Nein, ich … ich denke, das wäre nicht sehr klug.«
»Aber dort sind all meine Sachen. Dinge, die ich brauche, auch wenn ich hierbleibe. Kleidung …«
»Wir können dir Geld geben, um neue zu kaufen.«
»Bitte«, beharrte Clary. »Ich muss sehen, ob … ob irgendetwas übrig geblieben ist.«
Hodge zögerte und nickte dann kurz. »Wenn Jace dich begleitet, kannst du hingehen.« Er beugte sich über den Schreibtisch und wühlte in seinen Papieren. Dann schaute er sich um, als bemerke er erst jetzt, dass sie noch im Raum stand. »Er ist in der Waffenkammer.«
»Ich weiß nicht, wo das ist.«
Hodge lächelte verschmitzt. »Church wird dich hinbringen.«
Clary schaute zur Tür, wo der dicke blaue Perserkater sich zu einem kleinen Diwan zusammengerollt hatte. Er erhob sich, als Clary näher kam, sein Fell erzitterte, als durchliefe eine Welle sein Haarkleid. Mit einem gebieterischen Miau lotste er Clary in den Korridor. Als diese sich nach Hodge umsah, schrieb er bereits etwas auf einen Papierbogen. Wohl eine Nachricht an den rätselhaften Rat, dachte sie. Es klang nicht so, als handelte es sich dabei um nette Leute. Clary fragte sich, wie der Rat wohl reagieren würde.
Die rote Tinte wirkte auf dem weißen Papier wie Blut. Stirnrunzelnd rollte Hodge Starkweather den Brief sorgfältig zusammen und pfiff nach Hugo. Der Rabe ließ sich leise krächzend auf seinem Handgelenk nieder. Hodge zuckte zusammen. Vor Jahren, während des Aufstands, war er an der Schulter verwundet worden und selbst ein so geringes Gewicht wie das von Hugo – ebenso wie Wetterwechsel oder plötzliche Armbewegungen – erinnerte ihn an alte Schmerzen und Qualen, die längst vergessen sein sollten.
Manche Erinnerungen verblassten einfach nie. Wie ein Wetterleuchten tauchten die Bilder hinter seinen Lidern auf, wenn er die Augen schloss. Blut, Leichen, zertrampelte Erde, ein weißes Podium, jetzt rot vor Blut. Die Schreie der Sterbenden. Die grünen, hügeligen Weiten von Idris und ihr endlos blauer Himmel, in den sich die Türme der Gläsernen Stadt erhoben. Der Schmerz des Verlusts brandete in ihm hoch wie eine Woge; seine Hand ballte sich zur Faust, sodass Hugo panisch die Flügel schlug. Wütend hackte er nach den Fingern, bis sie bluteten. Hodge öffnete die Hand und gab den Vogel frei, der einmal seinen Kopf umkreiste, dann zum Oberlicht hinaufflog und verschwand.
Seine bösen Vorahnungen abschüttelnd, griff Hodge nach einem neuen Bogen; er merkte nicht einmal, dass er beim Schreiben die tiefroten Tropfen auf dem Papier verschmierte.
6
Forsaken
Die Waffenkammer sah genauso aus, wie Clary sich einen Raum vorstellte, der als »Waffenkammer« bezeichnet wurde. An den Wänden aus poliertem Metall hingen alle erdenklichen Arten von Schwertern, Dolchen, Speeren, Lanzen, Klingenstäben, Bajonetten, Peitschen, Keulen, Sensen und Bogen. Weiche, mit Pfeilen gefüllte Lederköcher baumelten von Haken an der Decke herab und in einer Ecke lagen haufenweise Stiefel, Beinschoner, Armschienen und Panzerhandschuhe. Der ganze Raum roch nach Metall und Leder und Stahlpolitur. Alec und Jace, der inzwischen festes Schuhwerk angezogen hatte, saßen an einem langen Tisch in der Mitte des Saals und beugten die Köpfe über mehrere Gegenstände, die zwischen ihnen lagen. Als die Tür hinter Clary ins Schloss fiel, schaute Jace auf. »Wo ist Hodge?«, fragte er.
»Schreibt einen Brief an die Stillen Brüder.«
Alec unterdrückte ein Schaudern. »Aargh.«
Clary ging langsam auf die beiden zu, wobei sie Alecs feindselige Augen deutlich auf sich spürte. »Was macht ihr da?«
»Wir legen letzte Hand an diese Waffen.« Jace trat beiseite, damit Clary einen Blick auf den Tisch werfen konnte. Vor ihr lagen drei lange, schlanke, röhrenförmige Stäbe aus matt glänzendem Silber, die aber nicht scharf oder besonders gefährlich wirkten. »Sanvi, Sansavi und Semangelaf. Das sind Seraphklingen, auch ›Engelsschwerter‹ genannt.«