»Aber dein Nachname ist nicht Lightwood.«
»Nein«, sagte Jace und Clary hätte ihn gerne gefragt, wie sein voller Name lautete. Aber sie näherten sich dem Haus und ihr Herz schlug inzwischen derart laut, dass man es sicher meilenweit hören konnte. In ihren Ohren dröhnte es und ihre Handflächen fühlten sich feucht an. Clary blieb vor der Buchsbaumhecke stehen und schaute langsam nach oben. Sie erwartete gelbes Absperrband vor der Haustür, Glassplitter auf dem Rasen und ein vollkommen zerstörtes Gebäude.
Doch das Haus zeigte keinerlei Anzeichen eines Kampfes: Der braune Sandstein schien in der warmen Nachmittagssonne förmlich zu glühen und Bienen summten träge in den Rosensträuchern unter Madame Dorotheas Fenstern.
»Es sieht völlig unverändert aus«, sagte Clary.
»Von außen.« Jace griff in seine Jeanstasche und holte ein weiteres dieser Geräte aus Metall und Kunststoff hervor, die Clary für ein Mobiltelefon gehalten hatte.
»Ist das ein Sensor? Wie funktioniert er?«, fragte sie.
»Er empfängt Frequenzen, genau wie ein Radio, nur mit dem Unterschied, dass diese Schwingungen dämonischen Ursprungs sind.«
»Dämonenkurzwelle?«
»So was in der Art.« Jace hielt den Sensor mit gestrecktem Arm vor sich, während sie sich der Haustür näherten. Das Gerät tickte leise, als sie die Stufen hinaufstiegen, und verstummte dann. Jace runzelte die Stirn. »Der Sensor registriert Spuren von Aktivität, aber das könnten auch noch die Überbleibsel von vor drei Tagen sein. Die Impulse sind jedenfalls nicht so stark, dass sie auf eine derzeitige Anwesenheit von Dämonen hinweisen.«
Clary stieß einen erleichterten Seufzer aus; ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie die Luft angehalten hatte. »Gut.« Sie bückte sich, um ihre Hausschlüssel hervorzuholen. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie die Kratzer an der Haustür. Beim letzten Mal musste es bereits so dunkel gewesen sein, dass sie sie nicht bemerkt hatte. Die Kratzer sahen aus wie von langen Krallen – tiefe, parallele Gräben im Holz.
Jace berührte sie am Arm. »Ich geh vor«, sagte er. Clary wollte ihm sagen, dass sie es nicht nötig habe, sich hinter ihm zu verstecken, brachte aber keinen Ton heraus. Auf einmal schmeckte sie wieder die Angst, die sie beim Anblick des Ravener verspürt hatte – ein scharfer, kupferartiger Geschmack, wie von alten Centstücken.
Jace drückte mit einer Hand die Tür auf und bedeutete Clary mit der anderen, ihm zu folgen. Dann standen sie im Treppenhaus. Clary blinzelte, um ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Die Flurlampe war noch immer defekt und das Oberlicht viel zu schmutzig, um auch nur einen Sonnenstrahl hereinzulassen. Madame Dorotheas Tür schien fest verschlossen; unter dem Türblatt schimmerte kein Licht hindurch. Clary fragte sich beklommen, ob ihr irgendetwas zugestoßen war.
Jace strich mit der Hand über das Treppengeländer. Als er seine Finger betrachtete, schimmerte etwas feucht und dunkelrot. »Blut.«
»Vielleicht noch von mir.« Ihre Stimme klang dünn. »Von vor drei Tagen.«
»Das müsste längst getrocknet sein«, erwiderte Jace. »Komm.«
Er eilte die Treppe hinauf, Clary immer dicht hinter sich. Auf dem Treppenabsatz vor der Wohnung war es noch dunkler und sie fummelte mit drei verschiedenen Schlüsseln, bis sie endlich den richtigen ins Schloss geschoben hatte. Jace beugte sich über sie und beobachtete sie ungeduldig. »Puste mir nicht in den Nacken«, zischte Clary. Ihre Hand zitterte. Endlich griffen die Arretierstifte des Türzylinders und das Schloss sprang mit einem Klicken auf.
Jace zog sie zurück. »Ich gehe vor.«
Sie zögerte einen Moment, trat dann aber beiseite, um ihn durchzulassen. Ihre Handflächen fühlten sich feucht an, allerdings nicht von der Hitze. Tatsächlich war es recht kühl in der Wohnung, fast schon kalt – eisige Luft zog vom Treppenhaus herein, prickelte auf ihrer Haut. Sie spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam, als sie Jace durch den kurzen Flur ins Wohnzimmer folgte.
Es war leer. Vollkommen leer, so wie bei ihrem Einzug – mit nackten Wänden und Böden, ohne irgendwelche Möbel, selbst die Vorhänge waren aus den Schienen gerissen. Lediglich an den etwas helleren Flecken an den Wänden konnte man noch erkennen, wo die Bilder ihrer Mutter gehangen hatten. Wie in Trance machte Clary auf dem Absatz kehrt und ging in die Küche, Jace war dicht hinter ihr. Seine hellen Augen hatte er zu Schlitzen zusammengekniffen.
Auch in der Küche herrschte gähnende Leere. Stühle, Tische, alles weg – selbst der Kühlschrank war verschwunden. Sämtliche Türen der Einbauschränke standen offen und gaben den Blick auf nackte Regalböden frei. Clary räusperte sich. »Was wollen Dämonen denn mit unserer Mikrowelle anfangen?«, fragte sie verwundert.
Jace schüttelte den Kopf, aber seine Mundwinkel zuckten amüsiert. »Keine Ahnung. Momentan zeigt der Sensor jedenfalls keine Dämonen in der näheren Umgebung an. Ich denke, sie sind schon lange weg.«
Clary sah sich weiter um. Irgendjemand hatte sogar die verschüttete Tabascosoße weggewischt, bemerkte sie seltsam unbeteiligt.
»Bist du fertig?«, fragte Jace. »Hier ist nichts mehr zu finden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte noch kurz in mein Zimmer.«
Er warf ihr einen Blick zu und schien etwas erwidern zu wollen, besann sich dann aber eines Besseren. »Von mir aus«, sagte er und steckte die Seraphklinge in die Tasche.
Die Lampe im Flur war defekt, aber Clary brauchte nicht viel Licht, um sich in der Wohnung zurechtzufinden. Mit Jace im Schlepptau steuerte sie auf ihr Zimmer zu und griff nach dem Türknauf. Er fühlte sich kalt an in ihrer Hand – so kalt, dass es fast schmerzte, als würde sie einen Eiszapfen mit bloßen Fingern berühren. Sie sah, dass Jace ihr einen raschen Blick zuwarf, aber sie drehte bereits den Türknauf, versuchte es zumindest. Er ließ sich nur schwer bewegen, so als wäre er auf der anderen Seite in eine dickflüssige, klebrige Masse eingebettet …
Plötzlich flog die Tür mit einem Ruck auf und traf Clary mit voller Wucht. Sie schlitterte durch den Wohnungsflur, prallte gegen die Wand und blieb auf dem Bauch liegen. In ihren Ohren dröhnte ein dumpfes Gebrüll, während sie auf die Knie zu kommen versuchte.
Jace presste sich flach gegen die Wand und griff hastig in seine Jackentasche; sein Gesicht war ein einziges überraschtes Fragezeichen. Wie ein Riese aus einem Märchen ragte über ihm ein hünenhafter Mann auf, mit Beinen wie Baumstämme, und schwang drohend eine Breitaxt. Dreckige Lumpen hingen von seinem Körper herab und seine langen Haare waren zu einer dreckstarrenden Matte verfilzt. Er stank nach giftig saurem Schweiß und fauligem Fleisch. Clary war froh, dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte – der Anblick seiner Rückseite genügte ihr völlig.
Jace hatte plötzlich den Seraphstab in der Hand, streckte den Arm aus und rief: »Sansavi!«
Wie von Zauberhand schoss eine Klinge aus dem Stab hervor. Clary musste an alte Spielfilme denken, wo Bajonette im Inneren von Spazierstöcken versteckt waren und auf Knopfdruck zum Vorschein kamen. Aber eine derartige Klinge hatte sie noch nie gesehen: klar wie Glas, mit einem leuchtenden Heft, ungemein scharf und fast so lang wie Jace’ Unterarm. Jace stieß zu und schlitzte den Riesen auf, der mit einem Brüllen zurücktaumelte.
Jace wirbelte herum und rannte auf Clary zu. Er packte sie am Arm, zog sie auf die Füße und schob sie vor sich den Flur entlang. Sie konnte den Koloss hinter sich hören; er folgte ihnen. Seine Schritte klangen, als würden schwere Bleigewichte auf den Boden fallen, und er holte rasch auf.
Sie rasten durch die Wohnungstür, hinaus ins Treppenhaus. Jace wirbelte herum, um die Tür hinter sich zuzuschlagen. Clary hörte das Klicken des automatischen Sicherheitsschlosses und hielt den Atem an. Die Tür erzitterte in den Scharnieren, als ein gewaltiger Axthieb aus dem Inneren der Wohnung dagegendonnerte. Clary rannte zur Treppe. Jace warf ihr einen Blick zu. Seine Augen funkelten vor fieberhafter Begeisterung. »Lauf nach unten! Bring dich in Sicherheit …«