Ein weiterer Schlag traf das Türblatt und dieses Mal gaben die Scharniere nach und die Tür flog aus dem Rahmen. Sie hätte Jace mit voller Wucht getroffen, wenn er nicht blitzschnell zur Seite gesprungen wäre – so schnell, dass Clary es kaum mitbekam. Plötzlich stand er auf der obersten Stufe; die Klinge in seiner Hand strahlte hell wie ein Komet. Clary sah, dass Jace ihr etwas zurief, konnte ihn aber wegen des Gebrülls des Kolosses nicht verstehen, der nun durch die zertrümmerte Tür brach und sich auf Jace stürzte. Sie presste sich flach gegen die Wand, als die Kreatur in einer Woge aus Hitze und Gestank an ihr vorbeistampfte. Im nächsten Moment flog die mächtige Breitaxt wie von einem Katapult abgefeuert durch die Luft auf Jace’ Kopf zu. Er duckte sich und die Schneide der Axt grub sich in das Treppengeländer, drang tief in das Holz ein.
Jace lachte. Das Gelächter schien den Koloss in noch größere Wut zu versetzen; er ließ die Axt stecken und torkelte mit erhobenen Fäusten auf Jace zu. Jace parierte den Angriff mit einer fließenden Bewegung und bohrte der Kreatur die Seraphklinge bis zum Heft in die Schulter. Einen Moment lang stand der Riese schwankend da. Dann taumelte er nach vorne, mit ausgestreckten Händen, die nach Jace griffen. Hastig sprang Jace zur Seite, doch er war nicht schnell genug: Die gewaltigen Fäuste bekamen ihn in dem Augenblick zu fassen, als der Koloss wankte und die Treppe hinunterstürzte. Er riss Jace mit sich. Jace schrie auf; dann ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen und Splittern, gefolgt von Totenstille.
Clary rappelte sich auf und rannte die Stufen hinunter. Jace lag ausgestreckt am Fuß der Treppe; sein linker Arm ragte in einem unnatürlichen Winkel unter ihm hervor. Seine Beine waren unter dem Riesen eingeklemmt, in dessen Schulter die Seraphklinge bis zum Heft eingedrungen war. Der Koloss lebte zwar, zuckte aber nur noch schwach; blutiger Schaum lief ihm aus dem Mundwinkel. Clary konnte sein Gesicht nun deutlicher sehen: die totenbleiche, papierdünne Haut war mit einem schwarzen Gitterwerk schrecklicher Narben überzogen, das seine Züge fast vollkommen entstellte. Seine Augenhöhlen waren rot und vereitert. Clary unterdrückte das Gefühl aufsteigender Übelkeit. Sie stolperte die letzten Stufen hinunter, stieg über den zuckenden Koloss und kniete sich neben Jace auf den Boden. Er war so still. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, fühlte sein blutdurchtränktes, feuchtklebriges Hemd – ob es sein Blut war oder das des Riesen, konnte sie nicht sagen.
»Jace?«
Er schlug die Augen auf. »Ist er tot?«
»Fast«, sagte Clary grimmig.
»Verdammt.« Er zuckte zusammen. »Meine Beine …«
»Halt still.« Clary krabbelte hinter seinen Kopf, schob ihre Hände unter seine Achseln und zog. Er stöhnte vor Schmerz, als seine Beine unter dem krampfartig zuckenden Körper des Riesen zum Vorschein kamen. Clary ließ ihn los und er rappelte sich mühsam auf, den linken Arm vor die Brust geklemmt. Sie richtete sich ebenfalls auf. »Ist mit deinem Arm alles in Ordnung?«
»Nein. Ist gebrochen«, sagte er. »Kannst du mal bitte in meine Tasche greifen?«
Sie zögerte eine Sekunde, nickte dann aber. »In welche?«
»Innere Jackentasche, rechte Seite. Hol eine der Seraphklingen heraus und gib sie mir.« Er verharrte regungslos, während sie nervös ihre Finger in seine Tasche schob. Sie stand nun so dicht vor ihm, dass sie seinen Geruch wahrnehmen konnte – eine Mischung aus Schweiß, Seife und Blut. Sein Atem streifte ihren Nacken. Ihre Finger schlossen sich um einen röhrenförmigen Stab und sie zog ihn hervor, ohne Jace anzusehen.
»Danke«, sagte er. Seine Finger strichen kurz über den Stab, dann sprach er den Namen der Waffe aus: »Sanvi.« Genau wie ihr Vorgänger verwandelte sich auch diese Röhre in eine gefährliche Klinge, deren Licht Jace’ Gesicht beleuchtete. »Guck nicht hin«, sagte er und postierte sich über dem Körper der narbenübersäten Kreatur. Er hob die Klinge über den Kopf und stieß dann zu. Blut schoss aus der Kehle des Riesen und spritzte über Jace’ Stiefel.
Clary hatte erwartet, dass der Koloss sich in Luft auflösen würde, so wie der Junge im Pandemonium in sich zusammengefallen und dann verschwunden war. Doch das geschah nicht. Die Luft war schwer vom Geruch des Blutes, süß und metallisch. Jace stieß einen kehligen Laut aus. Er war kreidebleich, aber sie konnte nicht sagen, ob vor Schmerz oder Ekel. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht hingucken«, knurrte er.
»Ich dachte, er würde verschwinden«, murmelte sie. »In seine eigene Dimension zurückkehren, so wie du es gesagt hast.«
»Ich hab gesagt, das passiert mit Dämonen, wenn sie sterben.« Er stöhnte vor Schmerz, während er seine Jacke von den Schultern streifte und den linken Oberarm freilegte. »Aber das war kein Dämon.« Mit der rechten Hand zog er etwas aus seinem Gürtel. Es war der glatte, stabförmige Gegenstand, mit dem er die einander überschneidenden Kreise in Clarys Haut geritzt hatte. Beim bloßen Anblick des Stabs spürte Clary bereits, wie ihr Unterarm zu brennen begann.
Jace fing ihren Blick auf und grinste leicht. »Das«, sagte er, »ist eine Stele.« Er führte den Stab an das dunkle Mal auf seiner Schulter, das eine merkwürdige, fast sternförmige Gestalt besaß. Zwei Zacken des Sterns ragten über den Rest des Mals hinaus. »Und das«, fuhr er fort, »passiert, wenn ein Schattenjäger verwundet ist.«
Mit der Spitze der Stele zog er eine Linie, welche die beiden Zacken des Sterns miteinander verband. Als er die Hand sinken ließ, leuchtete das Mal auf, als wäre es mit phosphoreszierender Tinte geritzt. Während Clary zusah, versank es in der Haut wie ein beschwerter Gegenstand im Wasser. Zurück blieb nur ein gespenstisches Andenken: eine helle, dünne, fast unsichtbare Narbe.
Ein Bild tauchte vor Clarys innerem Auge auf. Der Rücken ihrer Mutter, nicht vollständig durch den Badeanzug bedeckt; ihre Schulterblätter und die Wölbung der Wirbelsäule, von dünnen weißen Malen überzogen. Es schien ihr, als hätte sie das in einem Traum gesehen – der Rücken ihrer Mutter war schließlich makellos. Das wusste sie ganz genau. Doch das Bild ließ sie nicht mehr los.
Jace stieß einen Seufzer aus; sein schmerzverzerrtes Gesicht entspannte sich. Er bewegte den Arm, zunächst nur vorsichtig, doch dann müheloser. Schließlich hob und senkte er ihn, ballte die Hand zu einer Faust. Der Knochen war ganz eindeutig nicht länger gebrochen.
»Das ist ja toll«, sagte Clary. »Wie hast du das gemacht?«
»Mit einer Iratze – einer Heilrune«, erklärte Jace. »Wenn man die Rune mit der Stele vervollständigt, wird sie aktiviert.« Er schob den schlanken Stab in seinen Gürtel und zog die Jacke wieder über die Schultern. Dann stieß er mit der Stiefelspitze gegen den Leichnam des Riesen. »Wir müssen Hodge darüber informieren«, sagte er. »Der wird ausflippen«, fügte er hinzu, als erfülle ihn der Gedanke an Hodges Reaktion mit Genugtuung. Jace gehörte zu der Sorte von Leuten, denen es gefiel, wenn etwas passierte, dachte Clary – auch wenn das, was passierte, ziemlich übel war.
»Warum sollte er ausflippen?«, fragte Clary. »Und wenn ich es richtig verstehe, dann war das da kein Dämon. Deswegen hat der Sensor ihn auch nicht registriert, richtig?«
Jace nickte. »Siehst du die vielen Narben auf seinem Gesicht?«
»Ja.«
»Die wurden von einer Stele hervorgerufen, genau der gleichen Sorte wie dieser hier.« Er klopfte auf den Stab an seinem Gürtel. »Du hast mich doch gefragt, was passiert, wenn man jemanden, der kein Schattenjägerblut in sich trägt, mit einem Mal versieht. Eine einzige dieser Runen würde lediglich die Haut desjenigen verbrennen, aber viele mächtige Male … in das Fleisch eines ganz normalen Menschen geritzt, der nicht eine Spur von Schattenjägervorfahren besitzt … dann erhältst du so was.« Er deutete mit dem Kinn auf den Riesen. »Die Runen sind qualvoll. Und die Gezeichneten verlieren den Verstand – die Schmerzen treiben sie förmlich in den Wahnsinn. Sie verwandeln sich dann in grimmige, hirnlose Tötungsmaschinen, die weder essen noch schlafen, sofern man sie nicht dazu zwingt. Normalerweise sterben sie recht bald. Runen besitzen eine große Macht und können für sehr gute Zwecke eingesetzt werden – aber sie können auch dem Bösen dienen. Und die Forsaken sind böse.«