Clary starrte ihn entsetzt an. »Aber warum sollte sich jemand so etwas antun wollen?«
»Niemand würde das freiwillig auf sich nehmen – es wird ihnen von Dritten zugefügt. Vielleicht von einem Hexenmeister oder irgendeinem Schattenwesen, das sich dem Bösen verschrieben hat. Die Forsaken sind demjenigen treu, der sie mit einem Mal gezeichnet hat. Außerdem sind sie wie gesagt rücksichtslose Killer und können einfache Befehle ausführen. Im Grunde ist das so, als hätte man eine Armee von Sklaven zur Verfügung.« Jace stieg über den toten Forsaken und warf Clary einen Blick zu. »Ich geh noch mal rauf.«
»Aber die Wohnung ist doch leer.«
»Vielleicht lungern da oben ja noch weitere Untote herum«, erwiderte er, so als freue er sich fast schon darauf. »Du bleibst besser hier.« Damit stieg er die Stufen hinauf.
»Das würde ich nicht machen, wenn ich du wäre«, sagte eine schrille, vertraute Stimme wie aus dem Nichts. »Da, wo der erste herkam, warten noch weitere.«
Jace, der fast schon den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, wirbelte herum und starrte in die Dunkelheit. Auch Clary wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war; allerdings wusste sie sofort, wem sie gehörte. Der schwere Akzent war nicht zu verkennen.
»Madame Dorothea?«
Die alte Frau nickte huldvoll. Sie stand im Türrahmen ihrer Wohnung, in ein zeltartiges Gewand aus roher purpurroter Seide gehüllt. Goldketten glitzerten an ihren Handgelenken und um ihren Hals. Mehrere Strähnen hatten sich aus dem Knoten gelöst, zu dem sie ihr langes silbergrau meliertes Haar hochgesteckt hatte.
Jace starrte sie unverwandt an. »Aber …«
»Warten noch weitere was?«, fragte Clary.
»Weitere Forsaken«, erwiderte Madame Dorothea mit einer Heiterkeit in der Stimme, die nach Clarys Gefühl nicht zu den Umständen passte. Die alte Frau sah an ihr vorbei in den Flur. »Da habt ihr ja eine schöne Sauerei veranstaltet. Ich wette, keiner von euch beiden denkt auch nur im Traum daran, das wieder sauber zu machen. Typisch.«
»Aber Sie sind eine Irdische«, brachte Jace schließlich hervor.
»Messerscharf beobachtet«, bestätigte Madame Dorothea mit glänzenden Augen. »Mit dir hat der Rat ja wirklich einen Volltreffer gelandet.«
Jace’ Verwirrung wich einem Ausdruck wachsender Wut. »Sie wissen also vom Rat?«, fragte er herausfordernd. »Sie kennen den Rat, Sie wussten, dass sich Forsaken in diesem Haus aufhielten, und haben den Rat nicht informiert? Die bloße Existenz von Forsaken ist bereits ein Verstoß gegen das Bündnis …«
»Weder der Rat noch das Bündnis haben jemals etwas für mich getan«, entgegnete Madame Dorothea aufgebracht und ihre Augen funkelten wütend. »Ich schulde denen gar nichts.« Einen kurzen Moment lang wurde ihr schwerer New Yorker Akzent von einem heiseren, tieferen Tonfall verdrängt, den Clary nicht einordnen konnte.
»Jace, hör auf«, sagte Clary und wandte sich wieder an Madame Dorothea. »Wenn Sie vom Rat wissen und den Forsaken, wissen Sie dann vielleicht auch, was mit meiner Mutter passiert ist?«
Die alte Frau schüttelte den Kopf und ihre Ohrringe klimperten. Ein Hauch von Bedauern breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Wenn du meinen Rat hören willst: Ich würde dir empfehlen, deine Mutter zu vergessen«, sagte sie. »Sie ist fort.«
Der Boden schien unter Clarys Füßen zu schwanken. »Sie meinen, sie ist tot?«
»Nein«, erwiderte Dorothea gedehnt, fast zögerlich. »Ich bin mir sicher, sie ist noch am Leben. Noch.«
»Dann muss ich sie finden«, rief Clary. Die Welt drehte sich nicht länger. Jace stand dicht hinter ihr, eine Hand unter ihrem Ellbogen, als wolle er sie stützen. Doch Clary spürte es kaum. »Verstehen Sie? Ich muss sie finden, ehe …«
Madame Dorothea hielt eine Hand hoch. »Ich möchte nichts mit Schattenjägern zu tun haben.«
»Aber Sie haben meine Mutter gekannt. Sie war Ihre Nachbarin …«
»Dies ist eine offizielle Untersuchung des Rats«, unterbrach Jace sie. »Ich kann auch mit den Stillen Brüdern wiederkommen, wenn Ihnen das lieber ist.«
»Um Himmels willen, bloß nicht …« Madame Dorothea warf einen Blick auf ihre Tür und sah dann wieder zu Jace und Clary. »Na, meinetwegen kommt rein«, murmelte sie schließlich, »ich erzähle euch, was ich weiß.« Sie drehte sich um und ging ein paar Schritte in Richtung ihrer Wohnung, blieb dann aber abrupt stehen. »Wenn du irgendjemandem erzählst, dass ich dir geholfen habe, Schattenjäger«, zischte sie und funkelte Jace an, »dann wachst du morgen mit Schlangen statt Haaren auf und einem weiteren Paar Arme.«
»Könnte ganz nützlich sein, so ein weiteres Paar Arme«, sinnierte Jace, »vor allem im Kampf.«
»Nicht, wenn sie dir aus dem …« Madame Dorothea schwieg eine Sekunde und fügte dann mit einem maliziösen Lächeln hinzu: »… Hals wachsen.«
»Igitt«, erwiderte Jace leichthin.
»Igitt ist richtig, Jace Wayland.« Sie marschierte in ihre Wohnung; das purpurrote Zelt flatterte wie eine bunte Fahne hinter ihr her.
Clary sah Jace an. »Wayland?«
»Das ist mein Nachname.« Jace wirkte bestürzt. »Ich kann nicht behaupten, dass es mir gefällt, dass sie meinen Namen kennt.«
Clary sah Madame Dorothea hinterher. In ihrer Wohnung brannten mehrere Lampen und der schwere Duft von Weihrauch wehte durch den Hauseingang und vermischte sich auf unangenehme Weise mit dem Gestank des Blutes.
»Trotzdem sollten wir versuchen, mit ihr zu reden. Was haben wir schon zu verlieren?«
»Wenn du erst einmal etwas Zeit in unserer Welt verbracht hast«, entgegnete Jace, »wirst du mich das nicht mehr fragen.«
7
Die fünfdimensionale Tür
Madame Dorotheas Apartment hatte in etwa den gleichen Grundriss wie die Wohnung von Clary und ihrer Mutter, doch ihre Räume waren völlig anders eingerichtet. In der Diele duftete es nach Weihrauch und überall hingen Perlenvorhänge und Astrologie-Poster. Eines davon zeigte die Sternbilder der Tierkreiszeichen, ein anderes erklärte die chinesischen Magiesymbole und auf einem dritten war eine Hand mit ausgestreckten Fingern abgebildet, mit genauen Erläuterungen zu jeder Linie der Handfläche. Darüber standen die lateinischen Worte »In Manibus Fortuna«. Auf einem schmalen Regal entlang der Wand neben der Tür stapelten sich unzählige Bücher.
Einer der Vorhänge rasselte leise, dann tauchte Madame Dorotheas Kopf zwischen den Perlen auf. »Interesse an Chiromantie?«, fragte sie, als sie Clarys Blick bemerkte. »Oder einfach nur neugierig?«
»Keins von beiden«, erwiderte Clary. »Können Sie wirklich wahrsagen?«
»Meine Mutter hatte eine große Gabe. Sie konnte die Zukunft eines Menschen in seiner Hand lesen oder in den Blättern auf dem Boden seiner Teetasse. Einige ihrer Tricks hat sie mir beigebracht.« Dann wandte sie sich Jace zu und musterte ihn eingehend. »Wo wir gerade von Tee sprechen, junger Mann – Lust auf eine Tasse?«
»Was?«, fragte Jace verwirrt.
»Tee. Ich habe festgestellt, dass er nicht nur den Magen beruhigt, sondern auch den Geist schärft. Ein wunderbares Getränk.«
»Ich hätte gern eine Tasse«, sagte Clary, der plötzlich bewusst wurde, wie lange sie nichts mehr gegessen oder getrunken hatte. Sie fühlte sich, als sei seit dem Aufstehen pures Adrenalin durch ihre Adern pulsiert.
Jace gab nach. »Okay. Solange es kein Earl Grey ist«, meinte er und rümpfte seine schlanke Nase. »Ich hasse Bergamotte.«