Madame Dorothea lachte gackernd und verschwand wieder hinter dem Perlenvorhang, der sich durch ihre Berührung sanft bewegte.
Clary sah Jace an und zog eine Augenbraue hoch. »Du hasst Bergamotte?«
Jace stand inzwischen vor dem Bücherregal und sah sich die Titel an. »Hast du damit ein Problem?«
»Ich glaube, du bist der einzige Junge in meinem Alter, der überhaupt weiß, was Bergamotte ist – ganz zu schweigen davon, dass man Earl-Grey-Tee damit aromatisiert.«
»Tja«, meinte Jace gönnerhaft, »ich bin auch nicht wie andere Jungs in meinem Alter. Abgesehen davon«, fügte er hinzu, während er sich ein Buch aus dem Regal nahm, »besuchen wir im Institut Kurse über die wichtigsten Anwendungszwecke von Heilpflanzen. Die Teilnahme ist obligatorisch.«
»Und ich dachte immer, ihr hättet nur solche Kurse wie Abschlachten für Anfänger oder Einführung ins Enthaupten.«
Jace blätterte eine Seite um. »Sehr witzig, Fray.«
Clary, die bis dahin das Handleseposter betrachtet hatte, wirbelte herum. »Nenn mich nicht so.«
Überrascht schaute er auf. »Warum nicht? Das ist doch dein Nachname, oder?«
Simons Bild erschien vor ihrem inneren Auge. Simon – das letzte Mal hatte sie ihn gesehen, wie er ihr nachstarrte, während sie fluchtartig das Java Jones verließ. Sie wandte sich wieder dem Poster zu und schloss kurz die Augen. »Nur so.«
»Verstehe«, meinte Jace und seiner Stimme konnte sie entnehmen, dass er sie besser verstand, als ihr lieb war. Dann hörte sie, wie er das Buch zurück ins Regal stellte. »Das hier muss der Mist sein, mit dem sie Mundies beeindruckt«, sagte er angewidert. »Kein einziges ernst zu nehmendes Buch dabei.«
»Nur weil das nicht deine Art von Magie ist …«, setzte Clary aufgebracht an.
Wütend unterbrach er sie: »Ich betreibe keine Magie! Schreib dir das hinter die Ohren: Menschliche Wesen sind keine Magienutzer. Das ist Teil ihrer menschlichen Existenz. Hexen und Hexenmeister können nur deshalb Magie bewirken, weil sie Dämonenblut in sich haben.«
Clary brauchte einen Moment, um diese Information zu verarbeiten. »Aber ich habe doch gesehen, wie du Magie benutzt hast. Du trägst verzauberte Waffen …«
»Ich verwende magische Gegenstände – doch um dazu in der Lage zu sein, muss ich regelmäßig hart trainieren. Außerdem schützen mich die Runenmale auf meiner Haut. Wenn du zum Beispiel versuchen wolltest, eine meiner Seraphklingen zu benutzen, würde sie deine Haut verbrennen oder dich möglicherweise sogar töten.«
»Und was, wenn ich auch solche Male tragen würde?«, fragte Clary. »Könnte ich sie dann benutzen?«
»Nein«, sagte Jace knapp. »Die Male sind nur ein Teil des Ganzen. Dazu kommen Tests, schwere Prüfungen, Training aller Art … vergiss es einfach, okay? Lass meine Klingen in Ruhe. Am besten fasst du ohne meine Erlaubnis überhaupt keine meiner Waffen an.«
»Tja, so viel zu meinem Plan, sie alle bei eBay zu verkaufen«, murmelte Clary.
»Sie wo zu verkaufen?«
Clary schenkte ihm ein mildes Lächeln. »Ein mythischer Ort von großer magischer Kraft.«
Jace schaute verwirrt, zuckte dann aber die Achseln. »Die meisten Mythen sind wahr, zumindest im Kern.«
»Das wird mir langsam auch klar.«
Der Perlenvorhang rasselte wieder und Madame Dorotheas Kopf tauchte zwischen den Schnüren auf. »Der Tee steht auf dem Tisch«, sagte sie. »Ihr beiden braucht hier nicht herumzustehen wie zwei Esel. Kommt in den Salon.«
»Sie haben einen Salon?«, fragte Clary.
»Natürlich«, sagte Madame Dorothea. »Wo sollte ich sonst meine Gäste bewirten?«
»Ich gebe nur eben dem Lakaien meinen Hut«, meinte Jace.
Madame Dorothea warf ihm einen finsteren Blick zu. »Wenn du nur halb so witzig wärst, wie du glaubst, wärst du doppelt so witzig, wie du bist, mein Junge.« Sie verschwand wieder hinter dem Vorhang, wobei ihr lautes »Pff!« beinahe das Rasseln der Perlen übertönte.
Jace runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher, was sie damit sagen wollte.«
»Ach nein?«, fragte Clary. »Also für mich war das völlig einleuchtend.« Ehe er antworten konnte, war sie schon durch den Perlenvorhang geschlüpft.
Im Salon war es so dunkel, dass Clary mehrmals blinzeln musste, um ihre Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Schwaches Licht fiel auf zugezogene schwarze Samtvorhänge, welche die gesamte linke Wand bedeckten; ausgestopfte Vögel und Fledermäuse baumelten an dünnen Fäden von der Decke, glänzende schwarze Perlen saßen an den Stellen, wo einst ihre Augen gewesen waren. Auf dem Boden lagen fadenscheinige Perserteppiche, aus denen bei jedem Schritt eine Staubwolke stieg. Eine Gruppe wuchtiger rosafarbener Sessel umringte einen niedrigen Tisch, an dessen einem Ende Clary einen Stapel Tarotkarten erkannte, zusammengehalten von einem Seidenband. Auf der anderen Tischseite thronte eine Kristallkugel auf einem goldenen Ständer und in der Tischmitte stand ein silbernes Teeservice, das die Gäste zu erwarten schien: Auf einem hübschen Tablett stapelten sich Sandwichs, aus einer blauen Teekanne stieg langsam weißer Dampf auf und zwei Teetassen mit passenden Untertassen waren sorgfältig vor zwei der Sessel platziert worden.
»Wow«, sagte Clary matt. »Das sieht toll aus.« Sie ließ sich in einen der Sessel sinken. Es tat gut, endlich wieder einmal zu sitzen.
Dorothea lächelte und in ihren Augen glitzerte hintergründiger Humor. »Wer möchte Tee?«, fragte sie und hob die Kanne an. »Milch? Zucker?«
Clary schaute hinüber zu Jace, der neben ihr saß. Er hatte sich das Tablett mit den Sandwichs genommen und betrachtete es eingehend. »Zucker«, sagte sie.
Jace zuckte die Achseln, nahm sich ein Sandwich und stellte das Tablett wieder ab. Clary beobachtete ihn misstrauisch, während er hineinbiss. Er zuckte erneut die Achseln. »Gurke«, sagte er und erwiderte ihren Blick.
»Ich war immer schon der Meinung, dass Gurkensandwichs das einzig Wahre zum Tee sind«, sagte Madame Dorothea.
»Ich hasse Gurken«, erwiderte Jace und reichte Clary den Rest seines Sandwichs. Sie biss hinein – es war perfekt, mit genau der richtigen Menge Mayonnaise und Pfeffer.
Ihr Magen gab ein dankbares Knurren von sich und machte sich gierig über die erste feste Nahrung her, die er seit den Nachos mit Simon geboten bekam.
»Gurken und Bergamotte«, sagte Clary. »Was hasst du sonst noch, von dem ich unbedingt wissen sollte?«
Jace schaute über den Rand seiner Teetasse hinweg Madame Dorothea an. »Lügen«, sagte er.
Ruhig stellte die alte Dame ihre Teekanne ab. »Du kannst mich ruhig eine Lügnerin nennen. Es stimmt, ich bin keine Hexe. Aber meine Mutter war eine.«
Jace verschluckte sich fast an seinem Tee. »Das ist unmöglich.«
»Warum unmöglich?«, fragte Clary neugierig und nahm einen Schluck Tee. Er war bitter und stark aromatisiert und hatte einen rauchigen Nachgeschmack.
Jace seufzte. »Weil Hexen halb Mensch, halb Dämon sind. Alle Hexen und Hexenmeister sind Mischlinge. Und weil sie Mischlinge sind, können sie keine Kinder bekommen. Sie sind unfruchtbar.«
»Wie Maultiere«, meinte Clary nachdenklich, da sie sich an etwas erinnerte, das sie im Biologieunterricht gehört hatte. »Mulis sind unfruchtbare Mischlinge.«
»Deine Kenntnisse über Nutzvieh sind erstaunlich«, sagte Jace. »Alle Schattenwesen tragen einen Teil Dämonenblut in sich, aber nur Hexenmeister sind direkte Nachfahren von Dämoneneltern. Darum verfügen sie auch über die stärksten Kräfte.«
»Und Vampire und Werwölfe – sind die auch zum Teil Dämonen? Und was ist mit Elben?«
»Vampire und Werwölfe sind das Resultat von Krankheiten, die Dämonen aus ihren Heimatwelten eingeschleppt haben. Die meisten Dämonenkrankheiten sind für Menschen tödlich, doch in manchen Fällen verändern sie die Erkrankten auf seltsame Weise, ohne sie zu töten. Und Elben …«
»Elben sind gefallene Engel«, sagte Madame Dorothea, »die aus dem Himmel verbannt wurden, weil sie zu stolz waren.«
»So sagt die Legende«, meinte Jace. »Andere behaupten, dass es sich bei ihnen um die Nachkommen von Dämonen und Engeln handelt, was ich für wahrscheinlicher halte. Gut und Böse, miteinander vermischt. Elben sind so wunderschön, wie Engel es angeblich sind, doch sie tragen viel Mutwillen und Grausamkeit in sich. Und wie du feststellen wirst, meiden die meisten von ihnen die Mittagssonne …«