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»Denn das Böse hat keine Macht«, ergänzte Madame Dorothea leise, als zitiere sie ein altes Gedicht, »außer in der Dunkelheit.«

Jace warf ihr einen finsteren Blick zu.

»Wie Engel es angeblich sind?«, wiederholte Clary. »Willst du damit sagen, dass Engel …«

»Genug über Engel«, sagte Madame Dorothea plötzlich grob. »Es stimmt, dass Hexen keine Kinder bekommen können. Meine Mutter hat mich adoptiert, weil sie sicherstellen wollte, dass sich jemand nach ihrem Tod um diesen Ort hier kümmert. Ich selbst muss keine magischen Künste beherrschen; meine Aufgabe ist es, zu beobachten und zu hüten.«

»Hüten? Was denn?«, fragte Clary.

»Tja, was eigentlich?« Die alte Dame griff nach dem Tablett, um sich ein Sandwich zu nehmen, doch es war leer – Clary hatte alles aufgegessen. Madame Dorothea lachte leise. »Es tut gut, eine junge Frau zu sehen, die sich mal ordentlich satt isst. Zu meiner Zeit waren alle Mädchen robuste, stämmige Wesen und nicht solche Bohnenstangen wie heute.«

»Vielen Dank«, sagte Clary. Sie musste an Isabelles schmale Taille denken und kam sich plötzlich unförmig vor. Etwas zu heftig stellte sie die Teetasse ab.

Wie ein Raubvogel stürzte Madame Dorothea sich auf die Tasse und starrte aufmerksam hinein. Zwischen ihren bleistiftdünnen Augenbrauen erschien eine tiefe Falte.

»Was ist?«, fragte Clary nervös. »Habe ich die Tasse zerbrochen oder so was?«

»Sie liest deine Teeblätter«, sagte Jace. Es klang gelangweilt, doch auch er beugte sich zusammen mit Clary vor, während Madame Dorothea die Tasse zwischen ihren dicken Fingern hielt und mit finsterer Miene hin und her drehte.

»Ist es etwas Schlechtes?«, fragte Clary.

»Es ist weder gut noch schlecht. Es ist verwirrend.« Madame Dorothea schaute Jace an. »Gib mir deine Tasse«, befahl sie.

Jace wirkte beleidigt. »Aber ich bin noch nicht fertig mit …«

Die alte Dame pflückte ihm die Tasse aus der Hand und goss den überschüssigen Tee in die Kanne zurück. Dann starrte sie mit gerunzelter Stirn auf den Bodensatz. »Ich sehe Gewalt in deiner Zukunft; viel Blut wird vergossen werden, durch dich und andere. Du verliebst dich in die falsche Person. Und außerdem hast du einen Feind.«

»Nur einen? Das ist mal eine gute Nachricht.« Jace lehnte sich im Sessel zurück, während Madame Dorothea seine Teetasse abstellte und erneut nach Clarys Tasse griff. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich kann darin nichts erkennen. Die Bilder sind durcheinandergewürfelt, bedeutungslos.« Sie sah Clary an. »Hat man deinen Geist mit einer Blockade versehen?«

Clary war verwirrt. »Mit einer was?«

»Einer Blockade – einem Zauber, der eine deiner Erinnerungen verbirgt oder der dein Zweites Gesicht blockiert haben könnte.«

Clary schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht.«

Plötzlich hellhörig geworden, lehnte Jace sich vor. »Nicht so hastig«, sagte er. »Es stimmt – sie hat behauptet, dass sie sich nicht daran erinnern könnte, bis vor ein paar Tagen jemals das Zweite Gesicht gehabt zu haben. Vielleicht …«

»Vielleicht bin ich einfach nur ein Spätentwickler«, fauchte Clary. »Und hör auf, so anzüglich zu grinsen, nur weil ich das gesagt habe.«

Jace gab sich unschuldig. »War nicht meine Absicht.«

»Ich hab’s aber deutlich gesehen.«

»Mag sein«, gab Jace zu, »aber das bedeutet nicht, dass ich unrecht habe. Irgendwas blockiert deine Erinnerungen, da bin ich mir ziemlich sicher.«

»Also gut, lasst uns etwas anderes versuchen.« Madame Dorothea stellte die Tasse ab und griff nach den mit dem Seidenband umwickelten Tarotkarten. Sie fächerte die Karten auf und hielt sie Clary hin. »Lass deine Hand langsam darübergleiten, bis du eine Karte berührst, die sich heiß oder kalt anfühlt oder die an deinen Fingern zu kleben scheint. Dann zieh sie heraus und zeig sie mir.«

Gehorsam fuhr Clary mit der ausgestreckten Hand über die Karten. Sie fühlten sich kühl an und ein wenig glatt, aber keine von ihnen kam ihr besonders heiß oder kalt vor und keine blieb an ihren Fingern kleben. Schließlich pickte sie aufs Geratewohl eine heraus und hielt sie hoch.

»Das Ass der Kelche«, sagte Madame Dorothea. Sie klang verwirrt. »Die Karte der Liebe.«

Clary drehte die Karte um und betrachtete sie. Sie lag schwer in ihrer Hand, denn das Bild auf der Vorderseite war mit echter Ölfarbe gemalt worden. Es zeigte eine Hand, die einen Kelch in die Höhe hielt; im Hintergrund erkannte man eine strahlenförmige Sonne, in Goldfarbe gemalt. Auch der Kelch leuchtete golden; er war mit einem Muster aus kleineren Sonnen verziert und mit Rubinen besetzt. Der Malstil des Bildes war ihr so vertraut wie ihr eigener Atem. »Das ist eine gute Karte, richtig?«

»Nicht unbedingt. Die schrecklichsten Dinge, zu denen Menschen fähig sind, tun sie im Namen der Liebe«, sagte Madame Dorothea mit leuchtenden Augen. »Aber es ist eine sehr mächtige Karte. Was sagt sie dir?«

»Dass meine Mutter sie gemalt hat«, erwiderte Clary und legte die Karte auf den Tisch. »Das stimmt doch, oder?«

Madame Dorothea nickte zufrieden. »Sie hat das ganze Spiel gemalt. Ein Geschenk für mich.«

»Das behaupten Sie.« Mit kaltem Blick stand Jace auf. »Wie gut kannten Sie Clarys Mutter?«

Clary verdrehte ihren Hals, um zu ihm aufschauen zu können. »Jace, du musst nicht …«

Dorothea lehnte sich in ihrem Sessel zurück und ließ die Karten ausgebreitet auf ihrer Brust ruhen. »Jocelyn wusste, was ich bin, und ich wusste, was sie war. Wir haben nicht viel darüber gesprochen. Manchmal hat sie mir einen Gefallen getan – zum Beispiel dieses Kartenspiel für mich gemalt – und im Gegenzug habe ich sie mit dem neuesten Klatsch aus der Schattenwelt beliefert. Es gab da einen Namen, nach dem ich mich für sie umhören sollte, und das habe ich auch getan.«

Jace’ Gesicht blieb ausdruckslos. »Und welcher Name war das?«

»Valentin.«

Clary setzte sich ruckartig in ihrem Sessel auf. »Aber das …«

»Sie sagen, Sie wussten, was Jocelyn war – aber was meinen Sie damit? Was war sie?«, fragte Jace.

»Jocelyn war, was sie war«, antwortete Madame Dorothea. »Aber in ihrer Vergangenheit war sie so wie du. Eine Schattenjägerin. Ein Mitglied des Rats.«

»Nein«, flüsterte Clary.

Madame Dorothea betrachtete sie mit traurigen, fast schon gütigen Augen. »Aber es ist die Wahrheit. Sie entschloss sich ganz bewusst, in diesem Haus zu leben, weil …«

»Weil es eine Zufluchtsstätte ist«, sagte Jace zu Madame Dorothea. »Nicht wahr? Ihre Mutter, die Hexe, war eine Hüterin. Sie schuf diesen Raum, versteckt, geschützt – ein perfekter Platz für Schattenwesen auf der Flucht, die sich verbergen müssen. Und genau das tun Sie auch, richtig? Sie verstecken Verbrecher hier.«

»So würdest du sie nennen«, sagte Madame Dorothea. »Du kennst das Motto des Bündnisses?«

»Dura lex sed lex«, erwiderte Jace automatisch. »Das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz.«

»Manchmal ist das Gesetz zu hart. Ich weiß, dass der Rat mich meiner Mutter weggenommen hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Deiner Meinung nach soll ich also zulassen, dass sie das auch anderen antun?«

»Oh, eine Philantropin.« Jace verzog verächtlich das Gesicht. »Und wahrscheinlich soll ich Ihnen jetzt auch noch glauben, dass Sie Schattenwesen hier Zuflucht gewähren, ohne sich dafür fürstlich bezahlen zu lassen?«

Madame Dorothea grinste so breit, dass ihre goldenen Backenzähne aufblitzten. »Nicht jeder kann so wie du auf sein blendendes Aussehen vertrauen.«

Jace schien die Schmeichelei kaltzulassen. »Ich sollte dem Rat erzählen, dass Sie …«

»Das darfst du nicht!« Clary war aufgesprungen. »Du hast es versprochen.«