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Jace starrte sie völlig verblüfft an.

Simon grinste. »Du hast noch nie von ›Dungeons and Dragons‹ gehört?«

»Ich hab schon mal von Donjons gehört, dem befestigten Teil einer Burganlage«, sagte Jace. »Und auch von Drachen. Aber die meisten sind ausgestorben.«

Simon schaute enttäuscht. »Du hast noch nie einen Drachen getötet?«

»Und er ist wahrscheinlich auch noch nie einer ein Meter achtzig großen, heißen Koboldfrau im Fellbikini begegnet«, sagte Clary gereizt. »Lass gut sein, Simon.«

»Echte Kobolde sind ungefähr zwanzig Zentimeter groß«, bemerkte Jace. »Und sie beißen.«

»Aber Vampire sind heiß, oder?«, hakte Simon nach. »Ich meine, einige von ihnen sehen echt scharf aus.«

Clary befürchtete einen Moment, Jace könne auf Simon losgehen und ihn bis zur Bewusstlosigkeit würgen. Stattdessen dachte er jedoch über die Frage nach. »Manche schon.«

»Cool!«, stieß Simon hervor.

Clary kam zu dem Schluss, dass es ihr besser gefiel, wenn die beiden sich stritten.

Jace rutschte vom Geländer der Veranda herunter. »Also durchsuchen wir jetzt das Haus, oder nicht?«

Simon stand auf. »Ich bin dabei. Wonach suchen wir?«

»Wir?«, fragte Jace mit drohendem Unterton. »Ich kann mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben.«

»Jace«, sagte Clary wütend.

Verächtlich zog er den linken Mundwinkel hoch. »Sollte ein Scherz sein.« Er trat zur Seite, um ihr den Weg zur Tür frei zu machen. »Wollen wir?«

Clary tastete in der Dunkelheit nach dem Türknauf. Als sie die Tür öffnete, ging das Licht auf der Veranda an und beleuchtete den dahinterliegenden Flur. Die Tür, die an seinem anderen Ende in den Buchladen führte, war fest verschlossen; Clary rüttelte an ihrem Knauf. »Sie ist abgeschlossen.«

»Darf ich mal, Irdische?«, sagte Jace und schob sie sanft beiseite. Er nahm seine Stele aus der Tasche und steckte sie in die Tür. Simon schaute mürrisch zu. Nicht für alle Vampirluder der Welt würde er Jace je mögen, dachte Clary.

»Er ist ein echt schräger Typ«, murmelte Simon. »Wie hältst du es bloß mit ihm aus?«

»Er hat mir das Leben gerettet.«

Simon schaute sie an. »Wie …«

Die Tür schwang mit einem Klicken auf. »Bitte sehr«, sagte Jace und ließ die Stele wieder in seine Tasche gleiten.

Clary sah, wie das Mal auf der Tür – direkt oberhalb von Jace’ Kopf – verblasste, als sie hindurchgingen. Die Hintertür führte in einen kleinen Lagerraum, von dessen nackten Wänden die Farbe blätterte. Überall waren Pappkartons gestapelt, auf denen mit Filzstift stand, was sie enthielten: »Romane«, »Gedichte«, »Kochbücher«, »Heimatkunde«, »Liebesromane«.

»Die Wohnung ist da drüben.« Clary ging auf die Tür am anderen Ende des Raums zu, aber Jace packte sie am Arm. »Warte.«

Sie schaute ihn nervös an. »Stimmt was nicht?«

»Ich weiß nicht.« Er zwängte sich zwischen zwei Stapel Pappkartons hindurch und pfiff. »Clary, komm mal her und sieh dir das an.«

Sie schaute sich um. Es war schummrig in dem Lagerraum; nur das Licht der Verandalampe fiel durch das Fenster. »Es ist so dunkel …«

Plötzlich flackerte Licht auf und tauchte den Raum in einen blendenden Schein. Simon wandte den Kopf ab. »Autsch.«

Jace lachte in sich hinein. Er stand mit erhobener Hand auf einem zugeklebten Karton. Etwas leuchtete in seiner Hand und das Licht strahlte durch seine angewinkelten Finger. »Elbenlicht«, sagte er.

Simon murmelte etwas in sich hinein, während Clary bereits über die Kartons kletterte und sich einen Weg zu Jace bahnte. Er stand hinter einem wackligen Stapel von Krimis; das Elbenlicht warf einen unheimlichen Schein auf sein Gesicht. »Sieh dir das mal an«, sagte er und zeigte auf eine Stelle hoch oben an der Wand. Zuerst dachte sie, er deute auf etwas, das aussah wie ein verzierter Wandleuchter. Aber als sie genauer hinschaute, erkannte sie, dass es sich um Metallschlaufen handelte, die an kurzen, in der Wand verankerten Ketten befestigt waren. »Sind das …«

»Handfesseln«, sagte Simon, der ihr gefolgt war. »Das ist, äh …«

»Sag jetzt nicht ›pervers‹.« Clary warf ihm einen warnenden Blick zu. »Wir sprechen hier über Luke.«

Jace fuhr mit der Hand über die Innenseite einer der Metallschlaufen. Als er seine Finger betrachtete, schimmerten sie rotbraun. »Getrocknetes Blut. Und hier, sieh mal.« Er zeigte auf die Stelle an der Wand, wo die Ketten verankert waren; der Putz schien sich nach außen zu wölben. »Jemand hat versucht, diese Dinger aus der Wand zu reißen. Mit ziemlich großer Kraft, wie es aussieht.«

Clarys Herz schlug schneller. »Glaubst du, mit Luke ist alles in Ordnung?«

Jace senkte das Elbenlicht. »Ich denke, das sollten wir besser herausfinden.«

Die Tür zur Wohnung war nicht verschlossen. Sie führte in Lukes Wohnzimmer. Trotz der unzähligen Bücher im Ladenund Lagerbereich befanden sich hier noch Hunderte weitere Bände. In den Bücherregalen, die bis zur Decke reichten, standen die Bücher in Zweierreihen hintereinander. Das Meiste waren Gedichtbände und Romane, dazwischen etliche Fantasybände und Krimis. Clary erinnerte sich, wie sie hier tagelang auf dem Polster der breiten Fensterbank gesessen und sich durch die gesammelten Chroniken von Prydain gelesen hatte, bis die Sonne über dem East River untergegangen war.

»Ich glaube, er ist nur kurz weg«, rief Simon, der in der Tür zu Lukes kleiner Küche stand. »Die Kaffeemaschine ist eingeschaltet und der Kaffee in der Kanne fühlt sich noch heiß an.«

Clary schaute in die Küche. In der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr. Lukes Jacken hingen ordentlich an ihren Haken im Wandschrank. Sie ging den Flur entlang und öffnete die Tür zu dem kleinen Schlafzimmer. Alles sah so aus wie immer; das Bett mit der grauen Tagesdecke und den flachen Kissen war nicht gemacht und auf der Kommode lag Kleingeld. Sie wandte sich ab. Als sie das Haus betreten hatten, war sie sich tief in ihrem Inneren sicher gewesen, dass sie die Wohnung vollkommen verwüstet vorfinden würden und Luke gefesselt, verletzt oder noch schlimmer zugerichtet sein würde. Doch jetzt wusste sie nicht mehr, was sie denken sollte.

Benommen ging sie über den Flur in das kleine Gästezimmer, in dem sie so oft geschlafen hatte, wenn ihre Mutter beruflich unterwegs gewesen war. Sie und Luke waren lange aufgeblieben und hatten alte Horrorfilme in dem flimmernden Schwarz-Weiß-Fernseher geschaut. Sie hatte sogar einen Rucksack mit Kleidung hier, damit sie ihre Sachen nicht immer hin und her tragen musste.

Sie kniete sich auf den Boden und zog ihn an seinem olivgrünen Träger unter dem Bett hervor. Er war mit Buttons übersät, die Simon ihr geschenkt hatte: »Gamers do it better«, »Otaku Wench«,

»Still not King«. In dem Rucksack befanden sich zusammengefaltete Kleidungsstücke, ein paar Ersatzslips, eine Haarbürste und sogar Shampoo. Gott sei Dank, dachte sie und warf die Tür hinter sich zu. Rasch zog sie Isabelles zu große, inzwischen mit Grasflecken bedeckte und verschwitzte Sachen aus, schlüpfte in ihre eigene sandgestrahlte Cordhose, die so weich war wie abgegriffenes Papier, und streifte sich ein blaues Trägertop über, auf dem vorne chinesische Schriftzeichen zu sehen waren. Dann stopfte sie Isabelles Sachen in ihren Rucksack, zog die Kordel zu und verließ das Gästezimmer, wobei der Rucksack an seiner vertrauten Stelle zwischen ihren Schulterblättern baumelte. Es war schön, wieder eigene Kleidung zu tragen.

Sie fand Jace in Lukes mit Büchern vollgestopftem Büro, wo er eine grüne Reisetasche untersuchte, die geöffnet auf dem Schreibtisch lag. Wie Simon gesagt hatte, war sie bis zum Rand mit Waffen gefüllt – Messer in Scheiden, eine zusammengerollte Peitsche und etwas, das aussah wie ein Metallring mit rasiermesserscharfer Kante.

»Das ist ein Chakram«, sagte Jace und schaute auf, als Clary ins Zimmer kam. »Eine Waffe der Sikhs. Man wirbelt sie um den Zeigefinger, ehe man sie loslässt. Chakrams sind selten und schwer zu benutzen. Seltsam, dass Luke eins hat. Hodge hat damals damit gekämpft – das Chakram war die Waffe seines Vertrauens. Das hat er mir jedenfalls erzählt.«