»Luke sammelt alle möglichen Sachen, Kunstobjekte und so«, meinte Clary und zeigte auf das Regal hinter dem Schreibtisch, in dem indische Bronzestatuen und russische Ikonen standen. Ihr Lieblingsstück war eine kleine Statue von Kali, der indischen Göttin der Zerstörung, die ein Schwert und ein abgetrenntes Haupt schwang, während sie mit zurückgeworfenem Kopf und geschlossenen Augen tanzte. Neben dem Schreibtisch stand ein antiker geschnitzter chinesischer Wandschirm aus glänzendem Rosenholz. »Schöne Dinge.«
Jace legte das Chakram vorsichtig beiseite. Eine Handvoll Kleidungsstücke hing aus Lukes Reisetasche heraus, als seien sie nachträglich hineingeworfen worden. »Ich glaube, das gehört dir.« Er zog etwas Rechteckiges hervor, das zwischen den Sachen versteckt war: eine Fotografie in einem Holzrahmen mit einem langen, senkrechten Riss im Glas. Der Riss zog ein Netz aus dünnen Linien über die lächelnden Gesichter von Luke, Clary und ihrer Mutter.
»Das gehört tatsächlich mir«, sagte Clary und nahm es ihm aus der Hand.
»Das Glas ist zerbrochen«, bemerkte Jace.
»Ich weiß. Das war ich – ich habe es kaputt gemacht, als ich damit nach dem Ravener geworfen habe.« Sie schaute ihm ins Gesicht und sah, dass ihm etwas dämmerte. »Das bedeutet, dass Luke nach dem Angriff noch einmal in der Wohnung gewesen sein muss. Vielleicht sogar heute …«
»Er muss der Letzte gewesen sein, der das Portal benutzt hat«, sagte Jace. »Deshalb hat es uns hierher teleportiert. Du hast an gar nichts gedacht, also wurden wir an den zuletzt aufgerufenen Ort gebracht.«
»Nett von Madame Dorothea, uns zu erzählen, dass Luke bei ihr war«, sagte Clary sarkastisch.
»Wahrscheinlich hat er sie dafür bezahlt, nichts zu sagen. Entweder das oder sie vertraut ihm mehr als uns. Was bedeutet, dass er vielleicht nicht …«
»Achtung!« Simon kam panisch ins Büro gerannt. »Wir kriegen Besuch.«
Clary ließ das Foto sinken. »Luke?«
Simon schaute über die Schulter in den Flur und nickte. »Ja. Aber er ist nicht allein – zwei Männer sind bei ihm.«
»Männer?« Jace durchmaß mit wenigen großen Schritten den Raum, blickte durch die Tür und fluchte leise. »Hexenmeister.«
Clary starrte ihn entsetzt an. »Hexenmeister? Aber …«
Jace legte einen Finger gegen die Lippen und zog sich von der Tür zurück. »Sch. Gibt es hier noch einen anderen Ausgang?«, fragte er leise.
Clary schüttelte den Kopf. Als vom Eingang her Schritte zu hören waren, wurde sie von einer Welle der Angst gepackt.
Jace schaute sich hektisch um, bis seine Augen an dem Wandschirm aus Rosenholz hängen blieben. »Versteckt euch dahinter«, flüsterte er. »Na los.«
Clary warf die zerbrochene Fotografie auf den Schreibtisch, sprintete hinter den Wandschirm und zog Simon mit sich. Jace war dicht hinter ihnen, die Stele in der Hand. Er hatte sich kaum versteckt, als auch schon die Tür aufflog, Leute in Lukes Büro kamen und die Stimmen von drei Männern zu hören waren. Clary schaute nervös zu Simon, der sehr blass war, und dann zu Jace, der die Stele in der Hand hielt und mit der Spitze ein Quadrat auf die Rückseite des Wandschirms zeichnete. Clary starrte verblüfft, als das Quadrat durchsichtig wurde wie eine Glasscheibe. Sie hörte, dass Simon scharf die Luft einzog – ein kaum wahrnehmbares Geräusch. Jace schaute sie beide an, schüttelte den Kopf und formte unhörbar mit den Lippen: Sie können uns nicht sehen, aber wir sie.
Clary biss sich auf die Lippe, beugte sich zu dem Quadrat vor und schaute hindurch, wobei sie Simons Atem im Nacken spürte. Sie konnte das Zimmer genau erkennen: die Bücherregale, den Schreibtisch mit der Reisetasche darauf und Luke, der mitgenommen aussah und leicht gebückt bei der Tür stand, die Brille auf die Stirn geschoben. Es war beängstigend, auch wenn sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte – das Fenster, das Jace geschaffen hatte, war wie eine dieser Glasscheiben in einem Polizeiverhörzimmer, durch die man nur von einer Seite hindurchsehen konnte.
Luke drehte sich um und schaute zur Tür. »Ja, seht euch nur in Ruhe um«, sagte er mit deutlichem Sarkasmus in der Stimme. »Wirklich nett von euch, dass ihr euch so für mich interessiert.«
Ein leises Lachen ertönte aus der Ecke des Büros. Mit einer raschen Drehung des Handgelenks berührte Jace den Rahmen seines »Fensters«, das sich daraufhin weiter öffnete und einen größeren Ausschnitt des Zimmers zeigte. Zwei Männer standen bei Luke, beide in lange rote Roben gekleidet, die Kapuzen zurückgeschoben. Der eine war dünn und trug einen eleganten grauen Schnurrbart und ein spitzes Bärtchen. Wenn er lächelte, zeigte er blendend weiße Zähne. Der andere war kräftig und untersetzt wie ein Ringer und hatte kurz geschorene rote Haare. Seine Haut war dunkelviolett und glänzte über den Wangenknochen, als sei sie zu straff gespannt.
»Das sind Hexenmeister?«, fragte Clary ganz leise.
Jace antwortete nicht. Er stand stocksteif da, wie eine Eisenstange. Wahrscheinlich fürchtet er, ich könnte losrennen und versuchen, zu Luke zu gelangen, dachte Clary. Sie wünschte, sie hätte ihm versichern können, dass sie das nicht vorhatte. Etwas an diesen Männern, in ihren dicken Gewändern von der Farbe hellroten Bluts, jagte ihr Angstschauer über den Rücken.
»Betrachte es als einen freundschaftlichen Kontrollbesuch, Graymark«, sagte der Mann mit dem grauen Schnurrbart. Sein Lächeln legte Zähne bloß, die so spitz waren, als seien sie gefeilt worden.
»Uns verbindet keine Freundschaft, Pangborn.« Luke setzte sich so auf die Schreibtischkante, dass er dem Mann die Sicht auf die Reisetasche und deren Inhalt versperrte. Jetzt, da er näher gekommen war, konnte Clary sehen, dass sein Gesicht und seine Hände schwer verletzt waren, seine Finger aufgekratzt und blutig. Ein langer Schnitt am Hals erstreckte sich bis unter seinen Kragen. Was um alles in der Welt war mit ihm passiert?, fragte sie sich.
»Blackwell, fass das nicht an – es ist wertvoll«, sagte Luke streng.
Der korpulente rothaarige Mann, der die Kali-Statue vom Regal genommen hatte, fuhr nachdenklich mit seinen Wurstfingern darüber. »Hübsch«, knurrte er.
»Ah«, sagte Pangborn und nahm seinem Gefährten die Statue aus der Hand. »Sie, die geschaffen wurde, einen Dämonen zu bekämpfen, den kein anderer Gott und kein Mensch töten konnte. ›Oh Kali, meine Mutter voller Glückseligkeit, die du den Schiwa bezaubert hast. In deiner rasenden Freude tanzest du und klatschst in die Hände. Du bist die Triebkraft all dessen, das sich bewegt, und wir sind nur deine wehrlosen Spielzeuge.‹«
»Sehr schön«, sagte Luke. »Ich wusste nicht, dass du die indischen Mythen studierst.«
»Alle Mythen sind wahr«, sagte Pangborn und Clary lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Oder hast du selbst das vergessen?«
»Ich habe nichts vergessen«, erwiderte Luke. Er sah zwar gelassen aus, aber an seinen Schultern und an den Linien um seinen Mund konnte Clary die Anspannung erkennen. »Ich nehme an, Valentin hat euch geschickt?«
»Ja«, sagte Pangborn. »Er dachte, du hättest vielleicht deine Meinung geändert.«
»Ich wüsste nicht, warum ich meine Meinung ändern sollte. Außerdem habe ich euch bereits gesagt, dass ich nichts weiß. Hübsche Roben übrigens.«
»Danke«, sagte Blackwell mit einem verschlagenen Grinsen. »Wir haben sie zwei toten Hexenmeistern abgeknöpft.«
»Es sind die offiziellen Roben des Abkommens, nicht wahr?«, fragte Luke. »Stammen sie vom Aufstand?«
Pangborn lachte leise in sich hinein. »Kriegsbeute.«
»Habt ihr keine Angst, jemand könnte euch für echt halten?«
»Nur, bis sie nah genug an uns herankommen«, erwiderte Blackwell.
Pangborn streichelte über den Ärmel seiner Robe. »Erinnerst du dich an den Aufstand, Lucian?«, fragte er leise. »Das war ein großer und ein schrecklicher Tag. Erinnerst du dich, wie wir zusammen für die Schlacht trainiert haben?«