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»Oh«, flüsterte Clary. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? »Wie viele andere Welten gibt es denn?«

»Das weiß niemand. Hunderttausende, vielleicht Millionen.«

»Und das sind alles … tote Welten? Aufgezehrt?« Clarys Magen zog sich zusammen, aber vielleicht lag es auch an dem Ruck, den die Kutsche machte, als sie über einen roten Mini fuhren. »Das klingt so traurig.«

»Das habe ich nicht gesagt.« Das dunkle orangefarbene Licht, das wie ein Dunstschleier über der Stadt lag, drang durch die Fenster und hob sein scharfes Profil hervor. »Es gibt vermutlich andere lebendige Welten, so wie unsere. Aber nur Dämonen können sich zwischen ihnen bewegen. Vermutlich weil sie überwiegend körperlos sind; allerdings kennt niemand den genauen Grund. Viele Hexenmeister haben Versuche unternommen, sind aber stets daran gescheitert. Nichts von der Erde kann die Schranken zwischen den Welten durchdringen. Wenn wir dazu in der Lage wären, könnten wir sie vielleicht aufhalten und verhindern, dass sie hierherkommen, aber bisher ist es niemandem gelungen herauszufinden, wie sie es machen. Inzwischen kommen immer mehr. Früher gab es nur kleine Invasionen von Dämonen, mit denen man leicht fertig werden konnte. Aber allein seit dem Jahr meiner Geburt sind mehr Dämonen durch die Schranken gedrungen als in allen Jahren davor zusammengenommen. Der Rat muss ständig Schattenjäger entsenden und sehr oft kehren sie nicht zurück.«

»Aber wenn du den Kelch der Engel hättest, könntest du weitere erschaffen, oder? Weitere Dämonenjäger?«, fragte Clary vorsichtig.

»Ja«, bestätigte Jace. »Aber wir haben den Kelch schon seit über fünfzehn Jahren nicht mehr in unserem Besitz und viele von uns sterben jung. Wir werden also allmählich immer weniger.«

»Könnt ihr euch denn nicht, äh …« Clary suchte nach dem richtigen Wort. »Fortpflanzen?«

Jace brach in Gelächter aus, genau in dem Moment, als die Kutsche eine scharfe Linkskurve fuhr. Er trotzte der Fliehkraft, doch Clary wurde gegen ihn geschleudert. Jace fing sie auf und hielt sie sanft, aber bestimmt auf Abstand. Sie spürte den kalten Abdruck seines Ringes wie ein Stück Eis auf ihrer verschwitzten Haut. »Natürlich«, sagte er. »Wir finden es toll, uns fortzupflanzen. Das ist eine unserer Lieblingsbeschäftigungen.«

Clary riss sich von ihm los, das Gesicht rot vor Scham, und schaute wieder aus dem Fenster. Sie fuhren auf ein schweres gusseisernes Tor zu, an dem sich dunkle Pflanzen emporrankten.

»Wir sind da«, verkündete Jace, als das sanfte Rollen der Räder auf dem Asphalt vom Holpern über Kopfsteinpflaster abgelöst wurde. Clary erkannte eine Inschrift auf dem Bogen, als sie durch das Tor fuhren: Marmorfriedhof der Stadt New York.

»Aber in Manhattan werden doch schon seit hundert Jahren keine Menschen mehr begraben, weil ihnen der Platz ausgegangen ist, oder?«, sagte sie. Die Kutsche fuhr durch eine schmale Gasse mit hohen Steinmauern zu beiden Seiten.

»Die City of Bones existiert schon länger.« Die Kutsche kam holpernd zum Stehen. Clary zuckte zusammen, als Jace den Arm ausstreckte, aber er wollte nur die Tür an ihrer Seite öffnen. Sein Arm war schlank und muskulös und mit feinen goldenen Härchen überzogen.

»Man hat keine Wahl, oder?«, fragte sie. »Wenn es darum geht, ein Schattenjäger zu sein, meine ich. Man kann sich nicht einfach dagegen entscheiden.«

»Nein.« Die Tür schwang auf und ließ einen Schwall stickiger Luft hinein. Die Kutsche hatte auf einem weiten Rasenstück angehalten, das von moosbewachsenen Marmorwänden umgeben war. »Aber wenn ich eine Wahl hätte, würde ich mich trotzdem dafür entscheiden.«

»Warum?«

Jace zog eine Augenbraue hoch, was Clary sofort neidisch machte. Sie hatte sich schon immer gewünscht, das zu können. »Weil es das ist, was ich gut kann.«

Er schob sich an ihr vorbei und sprang aus der Kutsche. Clary rutschte zur Kante der Sitzbank, sodass ihre Beine in der Luft hingen. Es war ziemlich hoch. Entschlossen sprang sie. Ihre Füße schmerzten beim Aufprall auf den Boden, aber sie fiel nicht hin. Triumphierend drehte sie sich um und sah, dass Jace sie beobachtete. »Ich hätte dir geholfen«, sagte er.

Sie blinzelte. »Schon in Ordnung. Das war nicht nötig.«

Jace schaute hinter sich. Bruder Jeremiah stieg lautlos mit wallender Robe vom Kutschbock herab. Seine Gestalt warf keinen Schatten auf das von der Sonne verbrannte Gras.

Kommt, sagte er. Er schwebte von der Kutsche und den beruhigenden Lichtern der Second Avenue davon, auf den dunklen Mittelpunkt des Gartens zu. Es war klar, dass sie ihm folgen sollten.

Das Gras war trocken und raschelte unter den Füßen, aber die Marmorwände zu beiden Seiten schimmerten glatt und weiß wie Perlen. Namen und Daten waren in sie eingemeißelt. Clary brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass sie Gräber kennzeichneten. Ein Schauer fuhr ihr über den Rücken. Wo waren die Leichen? In den Wänden, stehend begraben, als seien sie bei lebendigem Leib eingemauert worden …?

Während sie die Inschriften las, hatte sie nicht auf ihre Schritte geachtet, und als sie plötzlich mit etwas zusammenstieß, das eindeutig lebendig war, schrie sie laut auf.

Es war Jace. »Schrei nicht so. Du weckst noch die Toten.«

Sie musterte ihn stirnrunzelnd. »Warum bleiben wir stehen?«

Er zeigte auf Bruder Jeremiah, der vor einer Engelsstatue innegehalten hatte. Sie war nur ein wenig größer als er selbst, ihr Sockel mit Moos bewachsen. Der Marmor der Statue war so glatt, dass er fast durchsichtig schimmerte; das Gesicht des Engels wirkte entschlossen, schön und traurig zugleich. In ihren langen weißen Händen hielt die Statue einen Kelch, dessen Rand mit Edelsteinen besetzt war. Irgendetwas an diesem Engel schien Clarys Erinnerung zu wecken, denn er kam ihr auf unheimliche Weise vertraut vor. Auf dem Sockel stand eine Jahreszahl, 1234, umgeben von den Wörtern: Nephilim: facilis descensus averni.

»Soll das der Kelch der Engel sein?«, fragte sie.

Jace nickte. »Und das dort unten auf dem Sockel ist das Motto der Nephilim, der Schattenjäger.«

»Was bedeutet es?«

Jace’ Lächeln blitzte in der Dunkelheit auf. »Es bedeutet: ›Seit 1234 sehen wir Schattenjäger in Schwarz besser aus als die Witwen unserer Feinde.‹«

»Jace …«

Es bedeutet: Der Abstieg zur Hölle ist leicht, erklärte Jeremiah.

»Hübsch, und so aufbauend«, meinte Clary und bekam trotz der Hitze eine Gänsehaut.

»Das hier ist ein kleiner Scherz der Brüder«, sagte Jace. »Du wirst schon sehen.«

Sie schaute Bruder Jeremiah an. Er hatte eine schwach leuchtende Stele aus irgendeiner Innentasche seiner Robe geholt und zog mit deren Spitze das Muster einer Rune auf dem Sockel der Statue nach. Plötzlich öffnete sich der Mund des Marmorengels zu einem stummen Schrei und ein gähnendes schwarzes Loch klaffte in dem grasbewachsenen Boden zu Jeremiahs Füßen. Es sah aus wie ein offenes Grab.

Langsam trat Clary an den Rand des Lochs und blinzelte hinein. Stufen aus Granit, deren Kanten durch jahrelangen Gebrauch ausgetreten waren, führten in die Tiefe. In regelmäßigen Abständen waren Fackeln über der Treppe angebracht, die in intensivem Grün und Blau leuchteten. Der Fuß der Treppe verlor sich in der Dunkelheit.