Jace nahm die Stufen mit der Leichtigkeit eines Mannes, dem die Situation zwar nicht unbedingt angenehm, aber doch vertraut war. Auf halbem Weg zur ersten Fackel blieb er stehen und blickte zu ihr hinauf. »Komm schon«, sagte er ungeduldig.
Clary hatte kaum ihren Fuß auf die erste Stufe gestellt, als ihr Arm mit einem kalten Griff gepackt wurde. Sie schaute überrascht auf. Bruder Jeremiah hielt sie am Handgelenk und seine eisigen weißen Finger gruben sich in ihre Haut. Sie konnte den knöchernen Schimmer seines vernarbten Gesichts hinter der Kapuze sehen.
Fürchte dich nicht, sagte seine Stimme in ihrem Kopf. Es würde mehr als eines einzelnen menschlichen Schreis bedürfen, um diese Toten aufzuwecken.
Als er ihren Arm wieder freigab, stolperte sie mit hämmerndem Herzen hinter Jace die Stufen hinunter, der am Fuß der Treppe auf sie wartete. Er hatte eine der grün leuchtenden Fackeln aus der Halterung genommen und hielt sie auf Augenhöhe vor sich. Sie verlieh seiner Haut einen blassen grünen Schimmer. »Alles in Ordnung?«
Clary nickte, denn sie traute sich nicht zu sprechen. Die Stufen endeten auf einem flachen Absatz; vor ihnen erstreckte sich ein langer schwarzer Tunnel, aus dessen Wänden gewundene Baumwurzeln hervorragten. An seinem Ende war ein schwaches bläuliches Licht zu erkennen. »Es ist so … dunkel«, sagte sie matt.
»Soll ich deine Hand halten?«
Clary hielt beide Hände hinter den Rücken, wie ein kleines Kind. »Hör auf, so von oben herab mit mir zu reden.«
»Tja, ich kann ja wohl schlecht von unten hinauf mit dir reden. Dazu bist du zu klein.« Jace schaute an ihr vorbei und die Fackel versprühte Funken, als er weiterging. »Nur keine Umstände, Bruder Jeremiah«, sagte er gedehnt. »Geh ruhig vor. Wir sind direkt hinter dir.«
Clary zuckte zusammen. Sie war noch immer nicht an das stille Kommen und Gehen des Archivars gewöhnt. Er schwebte lautlos an ihr vorbei und in den Tunnel hinein. Einen kurzen Moment später folgte sie ihm und schob Jace’ ausgestreckte Hand von sich.
Das Erste, was Clary von der Stadt der Stille sah, waren endlose Reihen hoher Marmorbögen, die sich in der Ferne verloren wie ordentlich aufgereihte Spalierbäume eines Obstgartens. Der harte Marmor schimmerte in der Farbe hellen Elfenbeins und sah aus wie poliert; an einigen Stellen waren schmale Streifen Onyx, Jaspis und Jade eingesetzt. Während sie vom Tunnel aus auf den Wald aus Bögen zugingen, sah Clary, dass der Boden mit den gleichen Runen versehen war, die manchmal Jace’ Haut in Linien, Spiralen und kunstvoll verschlungenen Mustern bedeckten.
Als die drei durch den ersten Marmorbogen schritten, tauchte etwas Großes und Weißes zu ihrer Linken auf wie ein Eisberg vor dem Bug der Titanic. Es war ein weißer Steinblock, glatt und quadratisch, in dessen Vorderseite eine Art Tür eingelassen war. Clary fühlte sich an ein Spielhäuschen für Kinder erinnert, in dem sie gerade nicht mehr aufrecht stehen konnte.
»Das ist ein Mausoleum«, erklärte Jace und richtete das Licht der Fackel darauf. Clary sah, dass eine Rune in die mit Eisenriegeln verschlossene Tür eingemeißelt war. »Ein Grab. Hier bestatten wir unsere Toten.«
»Alle eure Toten?« Sie hätte ihn gerne gefragt, ob auch sein Vater hier beerdigt war, aber er war bereits weitergegangen und konnte sie nicht mehr hören. Sie eilte ihm hinterher, denn sie wollte an diesem unheimlichen Ort nicht mit Bruder Jeremiah allein sein. »Hattest du nicht gesagt, es sei eine Bibliothek?«
Die Stadt der Stille hat viele Ebenen, warf Jeremiah ein. Und nicht all unsere Toten sind hier bestattet. Es gibt ein weiteres Beinhaus in Idris, das natürlich viel größer ist. Aber auf dieser Ebene befinden sich die Mausoleen und der Ort der Feuerbestattung.
»Der Ort der Feuerbestattung?«
Diejenigen, die in der Schlacht sterben, werden verbrannt und aus ihrer Asche werden die Marmorbögen errichtet, die du hier siehst. Das Blut und die Gebeine der Dämonenjäger sind ein machtvoller Schutz gegen das Böse – Selbst über den Tod hinaus dient der Rat der Sache.
Wie anstrengend, dachte Clary, das ganze Leben zu kämpfen und diesen Kampf selbst dann noch fortsetzen zu müssen, wenn das Leben vorbei war. Aus den Augenwinkeln konnte sie die rechteckigen weißen Grabkammern sehen, die sich in ordentlichen Reihen zu beiden Seiten erhoben und deren Türen von außen verschlossen waren. Jetzt verstand sie, warum dieser Ort Stadt der Stille genannt wurde: Ihre einzigen Bewohnerwaren die Stillen Brüder und die Toten, die sie so eifrig bewachten.
Inzwischen standen sie vor einer weiteren Treppe, die noch tiefer in die Dunkelheit hineinführte. Jace hielt die Fackel hoch und sie warf Schatten an die Wände. »Wir steigen jetzt zur zweiten Ebene hinunter, wo sich die Archive und die Ratszimmer befinden«, sagte er, als wolle er sie beruhigen.
»Wo sind die Wohnbereiche?«, fragte Clary, teils aus Höflichkeit, teils aus Neugier. »Wo schlafen die Brüder?«
Schlafen?
Das stille Wort hing in der Dunkelheit zwischen ihnen. Jace lachte und die Flamme der Fackel in seiner Hand flackerte. »Das musstest du ja fragen.«
Am Fuß der Treppe befand sich ein weiterer Tunnel, der sich an seinem Ende zu einem rechteckigen Platz verbreiterte, dessen Ecken jeweils ein Turm aus geschnitzten Knochen markierte. An den Seiten des Platzes brannten Fackeln in langen Onyxhaltern und die Luft roch nach Asche und Rauch. In der Mitte des Platzes stand ein langer Tisch aus schwarzem, hell marmoriertem Basalt. An der dunklen Wand hinter dem Tisch hing ein enormes silbernes Schwert, dessen Heft die Form ausgebreiteter Flügel hatte, mit der Spitze nach unten. Entlang des Tischs saß eine Reihe Stiller Brüder, jeder in die gleiche pergamentfarbene Robe gekleidet wie Jeremiah.
Jeremiah verlor keine Zeit. Wir sind angekommen. Clarissa, trete vor den Rat der Stadt der Stille.
Clary sah Jace an, der jedoch verwirrt blinzelte. Bruder Jeremiah hatte offenbar nur in ihrem Kopf gesprochen. Sie schaute zum Tisch, auf die lange Reihe der stummen Gestalten in ihren schweren Roben. Der Boden des Platzes zeigte ein Schachbrettmuster aus goldener Bronze und einem dunkleren Rot. Direkt vor dem Tisch befand sich ein großes Quadrat aus schwarzem Marmor, verziert mit einem parabelförmigen Muster aus silbernen Sternen.
Clary trat in die Mitte des schwarzen Quadrats, als trete sie vor ein Erschießungskommando. Sie hob den Kopf. »In Ordnung«, sagte sie. »Und jetzt?«
Die Brüder gaben ein Geräusch von sich, das Clary die Haare im Nacken und auf den Armen zu Berge stehen ließ, ein Geräusch wie ein Seufzen oder ein Stöhnen. Einmütig hoben sie die Hand und schoben die Kapuzen zurück, sodass ihre vernarbten Gesichter und die leeren Augenhöhlen sichtbar wurden.
Clary hatte zwar schon Bruder Jeremiahs unverhülltes Gesicht gesehen, trotzdem krampfte sich ihr Magen zusammen. Es war, als würde sie eine Reihe von Totenköpfen ansehen – wie einer dieser mittelalterlichen Holzschnitte, auf denen die Toten herumliefen, sich unterhielten und auf den aufgetürmten Leibern der Lebenden tanzten. Ihre zugenähten Münder schienen sie anzugrinsen.
Der Rat grüßt dich, Clarissa Fray, hörte sie nicht nur eine, sondern ein Dutzend Stimmen in ihrem Kopf sagen. Einige klangen tief und heiser, andere weich und monoton, aber alle waren fordernd und beharrlich und drängten gegen die fragilen Schranken ihres Geistes.
»Stopp«, sagte sie und zu ihrem Erstaunen klang ihre Stimme fest und entschlossen. Der Lärm in ihrem Kopf riss so abrupt ab wie eine Schallplatte, die sich plötzlich nicht länger dreht. »Sie können in meinen Kopf hineinschauen«, sagte sie, »aber erst, wenn ich bereit bin.«
Wenn du unsere Hilfe nicht willst, können wir auch darauf verzichten. Schließlich hast du uns um Unterstützung gebeten.
»Sie wollen wissen, was in meinem Kopf ist, und das möchte ich auch. Das heißt aber nicht, dass Sie nicht vorsichtig vorgehen sollten«, erwiderte Clary.