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Der Bruder, der in der Mitte des Tischs saß, stützte das Kinn auf seine dünnen weißen Finger. Zugegeben, es ist ein interessantes Puzzle, sagte er und die Stimme, die sie hörte, war ruhig und neutral. Und wenn du dich nicht wehrst, besteht auch kein Grund, Zwang anzuwenden.

Clary biss die Zähne zusammen. Sie wollte sich wehren, ihnen Widerstand leisten, wollte diese aufdringlichen Stimmen aus ihrem Kopf verbannen. Es fiel ihr schwer, einfach abzuwarten und eine solch schwerwiegende Verletzung ihres intimsten, persönlichsten Inneren zu erlauben …

Aber sie sagte sich, dass dies aller Wahrscheinlichkeit nach bereits geschehen war. Das hier war nichts anderes als das Aufdecken eines vergangenen Verbrechens, des Diebstahls ihrer Erinnerung. Wenn es funktionierte, würde das wiederhergestellt werden, was man ihr genommen hatte. Sie schloss die Augen.

»Fangen Sie an«, sagte sie.

Der erste Kontakt erfolgte in Form eines Flüsterns in ihrem Kopf, so zart, als würde ein herabfallendes Blatt sie streifen. Sag dem Rat deinen Namen.

Clarissa Fray.

Weitere Stimmen gesellten sich zu der ersten. Wer bist du?

Ich bin Clary. Meine Mutter ist Jocelyn Fray. Ich wohne 807 Berkeley Place in Brooklyn. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Der Name meines Vaters war …

Plötzlich schien ihr Geist zurückzuschnellen wie ein Gummiband und sie taumelte lautlos in einen Wirbel von Bildern, die an die Innenseiten ihrer geschlossenen Lider geworfen wurden. Ihre Mutter scheuchte sie mitten in der Nacht über eine dunkle Straße, an deren Rändern sich schmutzige Schneehaufen auftürmten. Dann ein niedriger grauer und bleierner Himmel, Reihen schwarzer, kahler Bäume. Ein leeres, in die Erde gegrabenes Rechteck, in das ein schlichter Sarg herabgelassen wurde. Asche zu Asche. Jocelyn, die in ihre Patchwork-Decke gehüllt war und mit Tränen in den Augen hastig ein Kästchen schloss und unter ein Kissen schob, als Clary ins Zimmer kam. Sie sah erneut die Initialen auf der Schachteclass="underline" J. C.

Die Bilder kamen jetzt schneller, als würde sie ein Daumenkino durchblättern. Clary stand oben an einer Treppe und schaute einen schmalen Gang hinunter. Wieder sah sie Luke, vor ihm auf dem Boden seine grüne Reisetasche. Jocelyn stand vor ihm und schüttelte den Kopf. »Warum jetzt, Lucian? Ich dachte, du wärst tot …« Clary blinzelte; Luke sah anders aus, fast fremd. Er hatte einen Bart und seine Haare waren lang und unordentlich – Zweige senkten sich herab und versperrten ihr die Sicht; sie war wieder im Park und grüne Elfen, so klein wie Zahnstocher, schwebten zwischen den roten Blumen umher. Freudig streckte sie die Hand nach einer der Elfen aus, aber ihre Mutter schrie entsetzt auf und riss sie hoch. Dann war es erneut Winter auf der dunklen Straße und sie rannten, dicht zusammengedrängt unter einem Regenschirm; Jocelyn schob und zog sie zwischen den aufgetürmten Schneewänden hindurch. Ein Torweg aus Granit tauchte im Schneegestöber auf – über der Tür waren Worte eingemeißelt: DER MAGNIFIZIÖSE. Dann stand sie in einem Eingang, der nach Eisen und schmelzendem Schnee roch. Ihre Finger waren taub vor Kälte. Eine Hand unter ihrem Kinn hob ihren Kopf und oben an der Wand entdeckte sie mehrere Worte, von denen ihr zwei sofort ins Auge fielen: MAGNUS BANE.

Plötzlich fuhr ein stechender Schmerz durch ihren linken Arm. Sie schrie auf, während die Bilder verblassten und sie nach oben getrieben wurde und die Oberfläche ihres Bewusstseins durchbrach wie ein Taucher, der aus den Fluten emporschnellt. Etwas Kaltes drückte sich an ihre Wange. Sie riss die Augen auf und sah silberne Sterne. Sie musste zweimal blinzeln, ehe ihr klar wurde, dass sie auf dem Marmorfußboden lag, die Knie an die Brust gezogen. Als sie sich bewegen wollte, schoss ein heißer Schmerz durch ihren Arm.

Vorsichtig richtete sie sich auf. Die Haut über ihrem linken Ellbogen war aufgeschürft und blutete. Sie musste darauf gelandet sein, als sie das Bewusstsein verlor. Auf ihrem T-Shirt war Blut. Als sie sich verwirrt umschaute, erblickte sie Jace, der sie ansah, zwar vollkommen reglos, aber sehr blass um die Nase.

Magnus Bane. Die Worte bedeuteten etwas, aber was? Doch ehe sie die Frage laut aussprechen konnte, unterbrach Bruder Jeremiah sie.

Die Blockade in deinem Kopf ist stärker, als wir erwartet hatten, erklärte er. Nur derjenige, der sie errichtet hat, kann sie ohne Gefahr entfernen. Würden wir es tun, so würde das deinen Tod bedeuten.

Clary rappelte sich auf und hielt sich den verletzten Arm. »Aber ich weiß nicht, wer die Blockade errichtet hat. Wenn ich es wüsste, wäre ich nicht hierhergekommen.«

Die Antwort auf diese Frage ist mit deinen Gedanken verwoben, sagte Bruder Jeremiah. Du hast sie als Schriftzug in deinem Wachtraum gesehen.

»Magnus Bane? Aber … was kann das schon sein?«

Es ist genug. Bruder Jeremiah stand auf. Wie auf ein Zeichen erhob sich auch der Rest der Bruderschaft. In einer Geste stillschweigender Anerkennung verneigten die Männer den Kopf vor Jace und verschwanden dann zwischen den Säulen. Nur Bruder Jeremiah blieb zurück. Er sah teilnahmslos zu, wie Jace zu Clary eilte.

»Ist mit deinem Arm alles in Ordnung? Lass mich mal sehen«, forderte er und umfasste ihr Handgelenk.

»Au! Es ist nichts. Lass das, du machst es nur noch schlimmer«, sagte Clary und versuchte, sich loszumachen.

»Du blutest auf die Sprechenden Sterne«, sagte er. Clary schaute auf den Boden und sah, dass er recht hatte: Auf dem schwarzen und silbernen Marmor war ein Blutfleck. »Ich wette, irgendwo gibt es auch für diesen Fall ein Gesetz.« Vorsichtig drehte er ihren Arm um, sanfter, als sie es ihm zugetraut hätte. Dann zog er die Unterlippe zwischen die Zähne und pfiff leise. Clary blickte auf ihren Arm und erkannte, dass er vom Ellbogen bis zum Handgelenk mit Blut bedeckt war. Ihr Arm fühlte sich steif an und pochte vor Schmerz.

»Ist das der Moment, wo du dein T-Shirt in Streifen reißt, um meine Wunde zu verbinden?«, witzelte sie. Sie hasste den Anblick von Blut, besonders den ihres eigenen.

»Wenn es dir darum ging, dass ich mir die Kleider vom Leib reiße, hättest du mich nur bitten müssen.« Er griff in die Tasche und holte seine Stele heraus. »Das wäre nicht annähernd so schmerzhaft gewesen.«

Als sie sich an den stechenden Schmerz erinnerte, den die Stele bei ihrer ersten Berührung verursacht hatte, wappnete sie sich, doch dieses Mal spürte sie nur eine leichte Wärme, während der glühende Stab leicht über ihre Wunde glitt.

»So, das war’s schon«, sagte Jace und richtete sich auf. Clary beugte verblüfft ihren Arm – das Blut war zwar noch da, aber die Wunde schien verschwunden, ebenso wie der Schmerz und die Steifheit. »Und wenn du das nächste Mal vorhast, dich zu verletzen, um meine Aufmerksamkeit zu erregen, dann denk dran, dass ein paar süße Worte Wunder wirken können.«

Unwillkürlich verzog Clary den Mund zu einem Lächeln. »Ich werde daran denken«, sagte sie, und als er sich abwandte, fügte sie hinzu: »Danke.«

Jace ließ die Stele in seine hintere Hosentasche gleiten, ohne sich zu ihr umzudrehen, aber sie glaubte, aus seiner Schulterhaltung eine gewisse Befriedigung herauslesen zu können. »Bruder Jeremiah«, sagte er und rieb sich die Hände, »du bist die ganze Zeit sehr still gewesen. Bestimmt möchtest du uns an ein paar deiner Gedanken teilhaben lassen.«

Ich habe den Auftrag, euch aus der Stadt der Stille hinauszuführen, und das ist alles, entgegnete der Archivar. Clary fragte sich, ob sie es sich nur einbildete oder ob seine »Stimme« tatsächlich leicht pikiert klang.

»Wir finden auch selbst hinaus«, schlug Jace hoffnungsvoll vor. »Ich bin sicher, dass ich den Weg noch kenne …«

Die Wunder der Stadt der Stille sind nicht für die Augen der Nichteingeweihten bestimmt, sagte Jeremiah und kehrte ihnen mit einem lautlosen Flattern seiner Robe den Rücken zu. Hier entlang.