Выбрать главу

Der Junge blieb die ganze Zeit bei dem Falken, hielt ihn wach, indem er mit ihm sprach, und spielte ihm sogar Musik vor, denn es hieß, ein müder Vogel ließe sich leichter zähmen. Er lernte, mit der Ausrüstung umzugehen, mit der Haube, dem Brehlriemen und der Langfessel, mit der er den Vogel an seinem Handgelenk festband. Sein Vater hatte ihm aufgetragen, darauf zu achten, dass der Falke nichts sehen konnte, aber das brachte er nicht fertig. Stattdessen versuchte der Junge, sich dort hinzusetzen, wo der Vogel ihn sehen konnte, wenn er seine Flügel streichelte, denn er wollte, dass er ihm vertraute. Und er fütterte ihn aus der Hand. Zuerst wollte der Vogel nichts fressen; später fraß er jedoch so gierig, dass sein Schnabel die Haut der Handflächen aufschlitzte. Aber der Junge freute sich darüber, denn es war ein Fortschritt und er wollte, dass der Vogel ihn kennenlernte, selbst wenn dieser dazu sein Blut trinken musste.

Allmählich erkannte der Junge, dass der Falke schön war, dass seine schlanken Flügel für den schnellen Flug gemacht waren, dass er stark und geschickt, wild und geschmeidig war. Wenn er im Sturzflug auf den Boden zuschoss, bewegte er sich schnell wie ein Blitz. Als er lernte, zu kreisen und auf seinem Handgelenk zu landen, schrie der Junge fast vor Freude. Manchmal hüpfte der Vogel auf seine Schulter und legte ihm den Schnabel ins Haar. Er wusste, dass sein Falke ihn liebte, und als er sicher war, dass der Vogel nicht nur gezähmt, sondern perfekt abgerichtet war, ging er zu seinem Vater und zeigte ihm, was er geschafft hatte, in der Hoffnung, sein Vater würde stolz auf ihn sein.

Stattdessen nahm der Vater den Vogel, der nun zahm und zutraulich war, in die Hände und brach ihm das Genick. ›Ich habe dir gesagt, du sollst ihn abrichten‹, sagte der Vater und ließ den leblosen Körper des Falken zu Boden fallen. ›Stattdessen hast du ihm beigebracht, dich zu lieben. Falken sind aber keine liebevollen Haustiere: Ihre Natur ist kämpferisch, wild und grausam. Dieser Vogel war nicht gezähmt, er war gebrochen.›

Als sein Vater gegangen war, weinte der Junge um seinen Vogel, bis der Vater schließlich einen Bediensteten schickte, das tote Tier zu holen und zu begraben. Der Junge weinte nie wieder und er vergaß nie, was er gelernt hatte: dass lieben zerstören heißt und dass geliebt zu werden bedeutet, derjenige zu sein, der zerstört wird.«

Clary, die die ganze Zeit still dagelegen und kaum geatmet hatte, rollte auf den Rücken und öffnete die Augen. »Das ist eine schreckliche Geschichte«, sagte sie entrüstet.

Jace hatte die Beine angezogen und das Kinn auf die Knie gestützt. »Ja, wirklich?«, fragte er nachdenklich.

»Der Vater des Jungen ist furchtbar. Es ist eine Geschichte über Kindesmisshandlung. Ich hätte wissen sollen, was sich Schattenjäger unter einer Gutenachtgeschichte vorstellen – alles, wovon man entsetzliche Albträume bekommt …«

»Manchmal bekommt man von den Malen entsetzliche Albträume«, sagte Jace. »Wenn man noch zu jung dafür ist.« Er schaute sie nachdenklich an. Das Licht der Abenddämmerung drang durch die Vorhänge und machte aus seinem Gesicht eine Kontraststudie. Chiaroscuro, dachte sie, die Kunst von Licht und Schatten. »Wenn man es recht bedenkt, ist es eine gute Geschichte. Der Vater des Jungen hat nur versucht, ihn stärker zu machen. Unbeugsam.«

»Aber man muss lernen, ein wenig nachzugeben«, sagte Clary und gähnte. Trotz der schrecklichen Geschichte hatte der Rhythmus von Jace’ Stimme sie schläfrig gemacht. »Oder man zerbricht.«

»Nicht wenn man stark genug ist«, erwiderte Jace bestimmt. Er streckte die Hand aus und sie spürte, wie er mit dem Handrücken über ihre Wange streichelte. Sie merkte, dass ihr die Augen zufielen. Die Erschöpfung machte ihre Knochen weich und sie fühlte sich, als würde sie davongespült. Als sie einschlief, hörte sie seine Worte in ihrem Kopf nachhallen. Er hat mir alles gegeben, was ich wollte. Pferde, Waffen, Bücher, sogar einen Jagdfalken.

»Jace«, versuchte sie zu sagen. Aber der Schlaf hatte sie bereits übermannt. Er zog sie hinab und sie blieb stumm.

Eine drängende Stimme riss sie aus ihren Träumen. »Wach auf!« Langsam öffnete Clary die Augen. Sie fühlten sich schwer und verklebt an. Irgendetwas kitzelte in ihrem Gesicht. Haare!

Ruckartig setzte sie sich auf und krachte mit dem Kopf gegen etwas Hartes. »Au! Du hast mir gegen den Kopf geschlagen!«

Es war die Stimme eines Mädchens. Isabelle. Sie schaltete die Lampe neben dem Bett ein, schaute Clary vorwurfsvoll an und rieb sich den Schädel. Im Licht der Lampe schien sie förmlich zu schillern – sie trug einen langen silbernen Rock, ein paillettenbesetztes Top, ihre Nägel waren lackiert wie funkelnde Münzen und sie hatte ihr dunkles Haar mit silbernen Perlen durchflochten. Sie sah aus wie eine Mondgöttin. Clary hasste sie.

»Du hättest dich ja nicht so über mich beugen müssen. Du hast mich fast zu Tode erschreckt.« Clary rieb sich ebenfalls den Kopf. Direkt über ihrer Augenbraue spürte sie eine schmerzende Stelle. »Was willst du überhaupt?« Isabelle deutete auf den dunklen Nachthimmel vor dem Fenster. »Es ist fast Mitternacht. Wir müssen los, zu der Party, und du bist noch immer nicht umgezogen.«

»Ich wollte so gehen«, sagte Clary und zeigte auf ihr Ensemble aus Jeans und T-Shirt. »Ist das ein Problem?« »Ist das ein Problem?« Isabelle sah aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. »Natürlich ist das ein Problem! Kein Schattenwesen würde solche Kleider tragen. Und es ist eine Party. Du wirst auffallen wie ein bunter Hund, wenn du so … leger gekleidet bist«, sagte sie und schaute, als habe sie ein viel schlimmeres Wort als »leger« verwenden wollen.

»Ich wusste nicht, dass wir uns schick machen«, erwiderte Clary sauer. »Ich habe keine Partyklamotten dabei.« »Dann musst du dir welche von mir leihen.«

»Oh nein.« Clary dachte an das zu große T-Shirt und die weiten Jeans. »Ich meine, das geht doch nicht.« Isabelles Lächeln funkelte wie ihre Fingernägel. »Ich bestehe darauf.«

»Ich würde wirklich lieber meine eigenen Sachen anziehen«, protestierte Clary und wand sich unbehaglich, als Isabelle sie vor den bodenlangen Spiegel in ihrem Zimmer stellte.

»Das geht aber nicht«, sagte Isabelle. »Du siehst aus wie eine Achtjährige, und was noch schlimmer ist, du siehst aus wie eine Irdische.«

Clary schob rebellisch den Kiefer vor. »Von deinen Kleidern passt mir kein einziges.«

»Das werden wir ja sehen.«

Clary beobachtete Isabelle im Spiegel, als diese ihren Kleiderschrank durchstöberte. Ihr Zimmer sah aus, als sei darin eine Discokugel explodiert. Die Wände waren schwarz und schimmerten golden von der Farbe, die jemand in schwungvoller Schwammtechnik aufgetragen hatte. Überall lagen Kleidungsstücke: auf dem zerwühlten schwarzen Bett, über den Lehnen der Holzstühle. Sie quollen aus dem Schrank heraus und hingen an der großen Garderobe, die an einer Wand platziert worden war. Der Frisiertisch, dessen Spiegel eine pinkfarbene Pelzumrandung besaß, war übersät mit Glitter, Pailletten und Rouge- und Pudertöpfchen.

»Schönes Zimmer«, sagte Clary und dachte sehnsüchtig an ihre orangefarbenen Wände zu Hause.

»Danke. Ich habe es selbst gestrichen.« Isabelle kam mit einem engen schwarzen Teil vom Kleiderschrank zurück, das sie Clary zuwarf.

Clary faltete das Kleid auseinander und hielt es sich an. »Es sieht verdammt eng aus.«

»Es dehnt sich«, sagte Isabelle. »Zieh es an.«

Rasch schlüpfte Clary in das kleine Bad, das leuchtend blau gestrichen war, und zwängte sich das Kleid über den Kopf – es war eng und hatte winzige Spaghettiträger. Sie versuchte, flach zu atmen, und ging ins Schlafzimmer zurück, wo Isabelle in Sandalen auf dem Bett saß und sich ein paar juwelenbesetzte Ringe an die Zehen schob. »Du kannst wirklich froh sein, dass du so eine flache Brust hast«, sagte Isabelle. »Ich könnte so was nie ohne BH tragen.«