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»Das ist was anderes«, stieß Simon zwischen zusammengebissenen Zahnen hervor.

»Ach ja? Und wieso?«

»Weil ich mitbekommen habe, wie du ihn ansiehst!«, rief er wütend. »Und ich habe keines dieser Mädchen je auf diese Weise angesehen! Das war nur ein Zeitvertreib, eine Art Übung, bis …«

»Bis was?« Clary spürte dunkel, dass sie schrecklich zu ihm war. Die ganze Geschichte war schrecklich. Bis zu diesem Moment hatten sie sich höchstens mal darüber gestritten, wer den letzten Schokokuss aus der Schachtel im Baumhaus essen durfte. Doch sie schien einfach nicht aufhören zu können. »Bis du Isabelle kennengelernt hast? Ich kann nicht fassen, dass du mir wegen Jace Vorträge hältst, während du einen kompletten Idioten aus dir gemacht hast, und zwar wegen ihr!« Ihre Stimme überschlug sich nun fast.

»Ich hab versucht, dich eifersüchtig zu machen!«, brüllte Simon zurück. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. »Du bist so blöd, Clary. So blöd! Kapierst du denn gar nichts?«

Verblüfft starrte sie ihn an. Wovon zum Teufel redete er? »Du hast versucht, mich eifersüchtig zu machen? Warum um alles in der Welt?«

Sie erkannte sofort, dass es das Schlimmste war, was sie hätte fragen können.

»Weil«, setzte er so bitter an, dass sie erschrak, »weil ich seit zehn Jahren in dich verliebt bin. Deshalb dachte ich, es wäre an der Zeit herauszufinden, ob du das Gleiche für mich empfindest. Was aber anscheinend nicht der Fall ist.« Genauso gut hätte er ihr einen Tritt in den Magen verpassen können. Clary brachte keinen Ton hervor; die Luft schien aus ihren Lungen gewichen zu sein. Sie starrte ihn an, suchte fieberhaft nach einer Antwort, irgendeiner Antwort.

»Nein. Lass das. Es gibt nichts, was du sagen könntest«, unterbrach er sie rüde, als sie gerade ansetzen wollte.

Wie gelähmt sah sie ihm nach, wie er zur Tür ging. Sie konnte sich nicht dazu bringen, ihn zurückzuhalten – sosehr sie es auch wollte. Aber was hätte sie sagen sollen? Ich liebe dich auch? Nein, denn sie liebte ihn nicht – oder doch?

Simon blieb an der Tür stehen, eine Hand auf dem Türknauf, und drehte sich noch einmal zu ihr um. Seine Augen hinter den Brillengläsern wirkten nun eher müde als wütend. »Willst du wirklich wissen, was meine Mutter sonst noch über dich gesagt hat?«, fragte er.

Clary schüttelte den Kopf.

Er schien es nicht zu bemerken. »Sie meinte, du würdest mir das Herz brechen«, sagte er und ging. Die Tür fiel mit einem deutlichen Klicken hinter ihm ins Schloss und Clary war allein.

Nachdem er weg war, ließ sie sich auf ihr Bett sinken und griff nach ihrem Skizzenblock. Sie drückte ihn gegen die Brust, wollte nicht darin zeichnen, sondern nur den Geruch vertrauter Dinge wahrnehmen – Tinte, Papier, Kreide.

Sie dachte daran, Simon nachzulaufen, ihn einzuholen. Aber was hätte sie ihm sagen sollen? Was konnte sie überhaupt sagen? Du bist so blöd, Clary, hatte er gebrüllt. Kapierst du denn gar nichts?

Sie dachte an Hunderte von Dingen, die er gesagt oder getan hatte, an die Witze, die Eric und die anderen über sie beide gerissen hatten, an die Gespräche, die plötzlich verstummten, wenn sie den Raum betrat. Jace hatte es von Anfang an gewusst. Ich habe über euch gelacht, weil mich Liebesbezeugungen amüsieren, vor allem, wenn die Liebe nicht erwidert wird. Sie hatte sich damals nicht gefragt, was er damit meinte, doch jetzt wusste sie es.

Sie hatte Simon vor wenigen Stunden gesagt, dass sie in ihrem Leben nur drei Menschen geliebt hatte: ihre Mutter, Luke und ihn. Sie fragte sich, ob es wirklich möglich war, innerhalb einer Woche alle Menschen zu verlieren, die man liebte. Sie fragte sich, ob dies zu den Erlebnissen zählte, über die man jemals hinwegkommen konnte. Und dennoch … für einen kurzen Moment mit Jace oben auf dem Dach hatte sie ihre Mutter vergessen. Sie hatte Luke vergessen. Sie hatte Simon vergessen. Und sie war glücklich gewesen. Das war das Schlimmste daran – dass sie glücklich gewesen war.

Vielleicht, dachte sie, vielleicht war der Verlust von Simons Freundschaft ja die Strafe dafür, dass sie so egoistisch gewesen war, einen winzigen Moment lang glücklich zu sein, während ihre Mutter noch immer verschwunden war. Das Ganze war sowieso nicht echt gewesen. Jace mochte zwar fantastisch küssen können, aber er empfand nicht das Geringste für sie. Das hatte er selbst gesagt.

Langsam ließ sie den Skizzenblock sinken. Simon hatte recht gehabt; es war ein gutes Porträt von Jace. Sie hatte die harte Linie seines Mundes gut getroffen, die nicht dazu passenden, verletzlichen Augen. Die Schwingen wirkten so echt, dass sie sich vorstellte, wie weich sie sich anfühlen mussten, wenn sie mit dem Finger darüberstrich. Sie ließ ihre Hand auf das Papier sinken, ihre Gedanken abschweifen …

Und riss ihre Hand ruckartig zurück. Starrte auf das Blatt. Ihre Finger hatten kein trockenes Papier berührt, sondern weiche Federn. Ihr Blick wanderte zu den Runen, die sie gedankenverloren in eine Ecke des Blatts gekritzelt hatte. Sie schimmerten – genau wie die Runen, die Jace mit seiner Stele zeichnete.

Plötzlich begann ihr Herz, schneller zu schlagen, in einem kräftigen, pulsierenden Rhythmus. Wenn eine Rune eine Zeichnung zum Leben erwecken konnte, dann …

Ohne den Blick von der Zeichnung zu wenden, tastete sie nach ihren Stiften. Atemlos schlug sie eine neue, leere Seite auf und zeichnete das Erstbeste, was ihr durch den Kopf ging. Es war der Kaffeebecher, der auf ihrem Nachttisch stand. Dank der Techniken, die sie im Zeichenunterricht gelernt hatte, konnte sie ihn detailliert wiedergeben: den kaffeeverschmierten Rand, den Riss in der Glasur des Henkels. Als sie den Stift nach einer Weile beiseitelegte, hatte sie den Becher so wirklichkeitsgetreu wie möglich gezeichnet. Von einem Instinkt angetrieben, den sie selbst nicht ganz verstand, griff sie nach dem Becher und stellte ihn auf den oberen Rand des Papiers. Und dann begann sie sehr sorgfältig, die Runen neben die Zeichnung zu setzen.

18

Der Kelch der Engel

Jace lag auf dem Bett und gab vor zu schlafen, als das Klopfen an der Tür ihm schließlich doch zu viel wurde. Er hievte sich von der Bettdecke und stöhnte auf. Auch wenn er im Gewächshaus so getan hatte, als ginge es ihm glänzend, fühlte er noch immer jeden einzelnen schmerzenden Knochen in seinem Körper.

Schon bevor er die Tür öffnete, wusste er bereits, wer davorstehen würde. Wahrscheinlich hatte Simon es geschafft, sich erneut in eine Ratte verwandeln zu lassen. Aber dieses Mal würde er das verdammt noch mal auch bleiben. Denn er, Jace Wayland, war nicht bereit, auch nur einen Finger für ihn zu rühren.

Clary hielt den Skizzenblock fest an die Brust gedrückt; ein paar Haarsträhnen hatten sich aus ihren leuchtend roten Zöpfen gelöst. Jace lehnte sich gegen den Türrahmen, ignorierte den Adrenalinstoß, der ihm bei ihrem Anblick durch die Adern schoss. Und nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum sie diese Wirkung auf ihn hatte. Isabelle setzte ihre Schönheit gezielt ein wie ihre Peitsche, aber Clary wusste nicht einmal, dass sie schön war. Vielleicht war das die Erklärung.

Er konnte sich nur einen Grund für ihr Kommen vorstellen, obwohl das eigentlich keinen Sinn ergab – nach dem, was er zu ihr gesagt hatte. Worte waren wie Waffen; das hatte ihm sein Vater beigebracht, und er hatte Clary verletzen wollen, stärker als je ein Mädchen zuvor. Im Grunde hatte er vor ihr noch nie ein Mädchen verletzen wollen. Normalerweise wollte er sie nur und danach wollte er meist, dass sie möglichst bald wieder verschwanden.

»Lass mich raten«, sagte er, wobei er die Worte auf eine Weise dehnte, von der er wusste, dass Clary sie hasste. »Simon hat sich in einen Ozelot verwandelt und du willst, dass ich was dagegen unternehme, ehe Isabelle aus ihm eine Stola macht. Tja, da wirst du bis morgen warten müssen. Ich bin jetzt nicht im Dienst.« Er zeigte an sich herab; er trug einen blauen Pyjama mit einem Loch im Ärmel. »Siehst du? Schlafanzug.«