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»Ich hatte eigentlich gedacht, du könntest Eric fragen, ob er dir den Bus leiht.«

»Clary, wenn du glaubst, dass ich …«

»Wenn wir den Kelch der Engel finden, habe ich etwas in der Hand, um meine Mutter zurückzubekommen. Der Kelch ist der einzige Grund dafür, dass Valentin sie noch nicht getötet oder freigelassen hat.«

Simon stieß einen langen, gequälten Seufzer aus. »Glaubst du wirklich, dass du so einfach einen Handel mit ihm vereinbaren kannst, Clary? Ich weiß nicht recht.«

»Ich weiß es auch nicht. Aber ich weiß, dass zumindest eine Chance besteht.«

»Dieser Kelch ist ziemlich mächtig, oder? In ›Dungeons and Dragons‹ empfiehlt es sich normalerweise, nicht mit solch mächtigen Gegenständen herumzuspielen, bis man genau weiß, welche Eigenschaften sie besitzen.«

»Ich habe nicht vor, damit herumzuspielen. Ich will den Kelch nur dazu verwenden, meine Mom zu befreien.«

»Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn, Clary.«

»Das hier ist kein verdammtes Rollenspiel, Simon!«, schrie sie beinahe in den Hörer. »Kein lustiges Spielchen, bei dem das schlimmste Szenario darin besteht, dass du schlecht würfelst. Hier geht es um meine Mutter und darum, dass Valentin sie vielleicht gerade in diesem Moment foltert … oder tötet. Ich muss einfach alles versuchen, um sie zu befreien – genau wie ich es für dich getan habe.«

Pause. »Vielleicht hast du ja recht. Ich weiß auch nicht, aber das ist irgendwie nicht meine Welt. Wo genau soll es denn hingehen? Damit ich Eric Bescheid geben kann.«

»Bring ihn bloß nicht mit«, rief sie rasch.

»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte er mit übertriebener Geduld. »Ich bin ja nicht blöd.«

»Wir wollen zu mir nach Hause. Der Kelch ist bei uns im Haus.«

Sie konnte hören, wie er einen Moment verblüfft schwieg. »Bei euch im Haus? Ich dachte, da liefen Hunderte Zombies rum«, sagte er schließlich.

»Forsaken, keine Zombies. Jace und die anderen werden sich um sie kümmern, während ich den Kelch hole.«

»Warum musst ausgerechnet du den Kelch holen?« Er klang besorgt.

»Weil ich die Einzige bin, die dazu in der Lage ist«, erklärte Clary. »Bitte hol uns so schnell wie möglich ab; wir warten an der Straßenecke auf dich.«

Simon murmelte etwas Unverständliches, bevor er »Okay« sagte.

Clary öffnete die Augen. Die Bibliothek schien hinter einem Schleier von Tränen zu verschwimmen. »Danke, Simon«, sagte sie. »Du bist ein …«

Doch Simon hatte bereits aufgelegt.

»Ich habe den Eindruck, dass das Dilemma des Kräftegleichgewichts erstaunlich beständig ist«, meinte Hodge.

Clary warf ihm einen kurzen Blick zu. »Was meinen Sie denn damit?«

Sie hockte auf der Fensterbank in der Bibliothek, gegenüber von Hodge, der in seinem Sessel saß, mit Hugo auf der Armlehne. Auf einem Stapel schmutziger Teller, für die sich offenbar niemand zuständig fühlte, erkannte man die Reste des Frühstücks – klebrige Marmelade, Toastkrümel und Butterstückchen. Nach dem Frühstück waren alle auf ihre Zimmer gegangen, um sich vorzubereiten, und Clary war als Erste wieder in die Bibliothek zurückgekehrt – was nicht weiter überraschte, weil sie lediglich Jeans und T-Shirt überstreifen und kurz ihre Haare kämmen musste, während die anderen gezwungen waren, sich mit Waffen und Rüstungen auszustatten. Da Clary Jace’ Dolch im Hotel Dumort verloren hatte, besaß sie nur einen einzigen Gegenstand, der ansatzweise »übernatürliche Kräfte« besaß, den Elbenlichtstein in ihrer Tasche.

»Ich musste eben an deinen Simon denken«, meinte Hodge, »und an Alec und Jace.«

Clary schaute aus dem Fenster. Es regnete und dicke, fette Tropfen klatschten gegen die Scheibe. Der Himmel wirkte undurchdringlich und grau. »Was haben Alec und Jace mit Simon zu tun?«

»Überall dort, wo Gefühle nicht erwidert werden, herrscht ein Ungleichgewicht der Kräfte«, erklärte Hodge. »Ein Ungleichgewicht, dass sehr schnell ausgenutzt werden kann – doch das wäre nicht sehr weise. Wo Liebe ist, da ist häufig auch Hass. Beide Gefühle können durchaus nebeneinander existieren.«

»Simon hasst mich nicht.«

»Er könnte aber im Laufe der Zeit Hass gegen dich entwickeln, falls er den Eindruck bekommt, dass du ihn nur ausnutzt.« Hodge hielt abwehrend eine Hand hoch. »Ich weiß, dass das nicht deine Absicht ist, und manchmal kennt Not kein Gebot. Aber diese Situation erinnert mich an andere, vergleichbare Umstände. Hast du noch das Foto, das ich dir gegeben habe?«

Clary schüttelte den Kopf. »Nein, nicht hier. Es liegt in meinem Zimmer. Soll ich es holen?«

»Nein.« Hodge streichelte Hugos rabenschwarze Federn. »Als deine Mutter ein junges Mädchen war, hatte auch sie einen guten Freund – genau wie du Simon. Die beiden standen einander so nahe wie Geschwister; tatsächlich wurden sie häufig für Bruder und Schwester gehalten. Doch als sie heranwuchsen, erkannten sämtliche Freunde um sie herum, dass er sich in sie verliebt hatte. Aber sie bemerkte seine Gefühle nie und bezeichnete ihn in all den Jahren immer nur als ›Freund‹.«

Clary starrte Hodge an. »Meinen Sie etwa Luke?«

»Ja«, sagte Hodge. »Lucian war immer davon ausgegangen, dass er und Jocelyn füreinander bestimmt seien. Und als sie dann Valentin kennen- und lieben lernte, war es für ihn unerträglich. Nach ihrer Hochzeit verließ Lucian den Kreis und verschwand – und ließ uns alle in dem Glauben, er sei gestorben.«

»Das hat er nie erzählt … nie auch nur irgendetwas in der Art angedeutet«, meinte Clary. »In all den Jahren hätte er sie doch fragen können …«

»Er kannte die Antwort bereits«, erwiderte Hodge und blickte hinauf zum regennassen Dachfenster. »Lucian hat noch nie zu der Sorte von Männern gehört, die sich selbst etwas vormachen. Nein, er gab sich damit zufrieden, in ihrer Nähe zu sein – vielleicht in der Hoffnung, dass sich ihre Gefühle im Laufe der Zeit ändern könnten.«

»Aber wenn er sie liebt, warum hat er diesen Männern dann erzählt, dass es ihm egal sei, was mit ihr passiert? Warum hat er sie daran gehindert, ihm zu sagen, wo sie sich befindet?«

»Wie ich schon sagte: Wo Liebe ist, da ist auch Hass«, erklärte Hodge. »Sie hat ihn damals furchtbar verletzt; sie hat ihm den Rücken zugekehrt. Und trotzdem hat er in all diesen Jahren immer das treue Schoßhündchen gespielt, ohne Klagen, ohne Vorwürfe und ohne ihr seine Gefühle zu offenbaren. Vielleicht hat er dies für eine günstige Gelegenheit gehalten, den Spieß umzudrehen – sie so zu verletzen, wie sie ihn verletzt hat.«

»Das würde Luke niemals tun.« Doch Clary erinnerte sich auch an den eisigen Ton in seiner Stimme, als er ihr geraten hatte, ihn nicht mehr anzurufen. Erneut sah sie den harten Ausdruck in seinen Augen, als er mit Valentins Männern gesprochen hatte. Das war nicht der Luke, den sie kannte, mit dem sie aufgewachsen war. Der alte Luke hätte ihre Mutter niemals dafür bestrafen wollen, dass sie ihn nicht ausreichend oder auf die richtige Art und Weise liebte. »Aber sie hat ihn geliebt«, dachte Clary laut, ohne es zu bemerken. »Nur auf eine andere Weise als er sie. Reicht das denn nicht?«

»Vielleicht war er anderer Ansicht.«

»Was passiert eigentlich, wenn wir den Kelch gefunden haben?«, fragte Clary. »Wie nehmen wir Kontakt zu Valentin auf, um ihm mitzuteilen, dass wir ihn haben?«

»Hugo wird ihn zu finden wissen.«

Der Regen klatschte gegen die Scheiben. Clary zitterte. »Ich hol nur schnell meine Jacke«, sagte sie und rutschte von der Fensterbank.

Sie fand ihre grün-rosa Kapuzenjacke auf dem Boden ihres Rucksacks. Als sie sie herauszog, hörte sie etwas knistern. Es war das Foto, auf dem der Kreis, ihre Mutter und Valentin abgelichtet waren. Clary betrachtete die Aufnahme eine Weile und steckte sie dann wieder in ihren Rucksack.

Als sie in die Bibliothek zurückkehrte, hatten die anderen sich bereits um Hodge versammelt, der mit Hugo auf der Schulter an seinem Schreibtisch saß: Jace ganz in Schwarz, Isabelle mit ihren dämonentötenden Stiefeln und der goldenen Peitsche und Alec, der sich einen Köcher mit Pfeilen über die Schulter gehängt hatte und eine lederne Armschiene trug, die seinen rechten Arm vom Handgelenk bis zum Ellbogen schützte. Bis auf Hodge hatten alle frische Male aufgetragen – jeder Zentimeter nackter Haut war mit tintenschwarzen, verschlungenen Mustern versehen. Jace hatte seinen linken Ärmel aufgerollt und versuchte mit gerunzelter Stirn, das Kinn auf die Schulter gedrückt, ein achteckiges Mal in die Haut seines Oberarms zu ritzen.