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»Jace«, sagte Clary, »gib mir deine Stele.«

Er legte sie in ihre Hand, warm und beinahe lebendig. Sie drehte die Karte um und fuhr mit der Stele über die Runen, die auf ihrem Rücken aufgemalt waren – ein Schnörkel hier, eine Linie dort, und plötzlich bedeuteten sie etwas völlig anderes. Als Clary die Karte erneut umdrehte, hatte das Bild sich kaum merklich verändert: Die Finger hatten ihren Griff vom Stiel des Kelchs gelöst und schienen ihr den Kelch förmlich anzubieten, als ob sie sagen wollten: Hier, nimm ihn.

Sie ließ die Stele in ihre Tasche gleiten. Dann schob sie die Hand durch das kleine bemalte Rechteck der Karte, so mühelos, als handelte es sich um ein breites Fenster. Ihre Hand erfasste den Stiel des Kelchs und sie schloss ihre Finger darum. Als sie ihre Hand wieder zurückzog, den Kelch fest im Griff, war es ihr, als hörte sie einen winzigen Seufzer. Dann zerfiel die Karte, hohl und leer, zu Asche, die zwischen ihren Fingern auf den Teppich rieselte.

19

Abbadon

Clary war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte – Freudenschreie vielleicht oder zumindest ein wenig Applaus. Stattdessen herrschte absolutes Schweigen, das erst gebrochen wurde, als Jace sagte: »Irgendwie hatte ich angenommen, er wäre eindrucksvoller.«

Clary schaute auf den Kelch in ihrer Hand. Er wirkte kaum größer als ein ganz gewöhnliches Weinglas, war aber viel schwerer. Sie konnte spüren, dass eine Kraft in ihm pulsierte wie Blut, das durch Adern strömt. »Er ist absolut perfekt«, erwiderte sie entrüstet.

»Ja, ja, er ist schon ganz okay«, meinte Jace gönnerhaft, »aber irgendwie hatte ich gedacht, er würde … du weißt schon.« Mit den Händen beschrieb er eine Form von der Größe einer Hauskatze.

»Es ist der Kelch der Engel, nicht die Toilettenschüssel der Engel«, sagte Isabelle. »Sind wir hier fertig? Dann lasst uns abhauen.«

Madame Dorothea hatte den Kopf auf die Seite gelegt; ihre kleinen Augen glänzten fasziniert. »Er ist ja beschädigt!«, rief sie. »Wie konnte das passieren?«

»Beschädigt?« Verblüfft schaute Clary den Kelch an. Ihres Erachtens war er völlig in Ordnung.

»Hier«, sagte die Hexe, »ich zeige es dir.« Sie machte einen Schritt auf Clary zu und streckte ihre langen Finger mit den rot lackierten Nägeln nach dem Kelch aus. Unwillkürlich wich Clary zurück. Plötzlich stand Jace zwischen ihnen, die Hand am Griff seines Schwerts.

»Nichts für ungut«, sagte er ruhig, »aber außer uns fasst niemand den Kelch an.«

Dorothea schaute ihn einen Moment lang an und wieder wirkten ihre Augen seltsam leer. »Nur nichts überstürzen«,

erwiderte sie. »Es würde Valentin gar nicht gefallen, wenn dem Kelch etwas zustieße.«

Mit einem leisen Sirren zuckte Jace’ Schwert in die Höhe, bis seine Spitze genau unter Dorotheas Kinn schwebte. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte Jace mit festem Blick.

»Aber wir werden jetzt gehen.«

Die Augen der alten Frau schimmerten. »Natürlich, Schattenjäger«, murmelte sie und wich in Richtung der Wand mit den Vorhängen zurück. »Möchtet ihr vielleicht das Portal benutzen?«

Die Spitze von Jace’ Schwert schwankte leicht hin und her und verriet seine Verblüffung. Dann bemerkte Clary, wie sich seine Kiefer anspannten. »Nicht anfassen …«

Mit einem leisen Lachen riss Madame Dorothea blitzschnell die Vorhänge von der Wand. Sie fielen fast lautlos zu Boden.

Das Portal, das sie verdeckt hatten, war offen.

Clary hörte, wie Alec hinter ihr überrascht die Luft einsog.

»Was ist das?« Clary konnte nur einen kurzen Blick auf das werfen, was hinter der Tür lag – blutrote, dichte Wolken, aus denen schwarze Blitze zuckten, und eine grauenerregende dunkle Gestalt, die auf sie zustürmte –, als Jace auch schon brüllte: »Alle runter!« Damit ließ er sich auf den Boden fallen und riss Clary mit sich. Mit dem Bauch auf dem Teppich liegend, hob sie gerade rechtzeitig den Kopf, um mitzuerleben, wie das heranbrausende dunkle Etwas gegen Madame Dorothea prallte, die aufschrie und die Arme in die Höhe warf. Doch anstatt sie umzureißen, umhüllte das dunkle Ding die alte Hexe wie eine Wolke und durchdrang ihren Körper wie Tinte einen Bogen Löschpapier. Aus ihrem Rücken wuchs ein gigantischer Buckel und ihre ganze Gestalt wurde länger und länger, dehnte und reckte und verformte sich. Ein lautes Rasseln wie von fallenden Gegenständen ließ Clary zu Boden schauen: Dort lagen Dorotheas Armreifen, verbogen und zerbrochen. Dazwischen verstreut erblickte sie etwas, das an kleine weiße Steinchen erinnerte. Clary brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es sich in Wahrheit um Zähne handelte.

Neben ihr flüsterte Jace irgendetwas; es klang wie ein Ausruf des Unglaubens. Direkt neben ihm meinte Alec gepresst:

»Aber du hattest doch gesagt, es gäbe kaum Anzeichen für dämonische Aktivität – angeblich waren die Spuren doch gering!«

»Waren sie auch«, knurrte Jace.

»Du musst unter gering etwas anderes verstehen als ich!«, rief Alec, während das Wesen, das einmal Madame Dorothea gewesen war, sich hin und her wand und aufheulte. Es schien immer weiter zu wachsen, bucklig und krumm und grotesk missgebildet …

Clary riss sich von diesem Anblick los, als Jace aufstand und sie mit sich zog. Auch Isabelle und Alec kamen schwankend auf die Füße und griffen nach ihren Waffen. Die Peitsche in Isabelles Hand zitterte leicht.

»Raus hier!« Jace schob Clary in Richtung der Wohnungstür. Als sie über die Schulter einen Blick zurückwarf, sah sie nur ein wirbelndes, dichtes Grau, wie eine Unwetterfront, mit einer dunklen Gestalt im Zentrum …

Die vier rannten hinaus ins Treppenhaus, Isabelle vorneweg. Sie stürzte auf die Eingangstür zu, zerrte daran und drehte sich mit angsterfülltem Gesicht um: »Sie lässt sich nicht öffnen. Muss ein Bann sein …«

Jace fluchte und suchte fieberhaft in seinen Taschen. »Wo zum Teufel ist meine Stele …?«

»Ich hab sie«, erinnerte sich Clary. Während sie in ihre Tasche griff, erfüllte ein Donnerschlag den Raum. Der Boden erbebte unter ihren Füßen und sie stolperte und wäre fast hingefallen, konnte sich jedoch gerade noch am Treppengeländer festhalten. Als sie aufschaute, klaffte ein riesiges Loch in der Wand, die das Treppenhaus von Madame Dorotheas Wohnung trennte. An den ausgefransten Rändern des Lochs hingen Holzsplitter und Stückchen von Gips und mitten hindurch kletterte, sickerte irgendetwas …

»Alec!«, brüllte Jace. Alec stand genau vor dem Loch, leichenblass und wie versteinert vor Angst. Fluchend rannte Jace auf ihn zu, packte ihn und zerrte ihn genau in dem Moment weg, als das Wesen sich von den Resten der Wand löste und in das Treppenhaus vordrang.

Clary hörte, wie ihr Atem rasselte. Die gräuliche Haut der Kreatur war tropfnass und von Narben übersät. Überall stachen Knochen daraus hervor – keine lebendigen weißen Knochen, sondern Knochen, die so aussahen, als hätten sie tausend Jahre lang in der Erde gelegen, schwarz und geborsten und scheußlich. Statt Händen hatte die Kreatur Klauen aus Skelettknochen und ihre dürren Arme waren mit eitrigen schwarzen Geschwüren übersät, durch die man weitere vergilbte Knochen erkennen konnte. Auf dem Rumpf saß ein Totenkopf, mit tiefen Höhlen anstelle von Nase und Augen, und an den Gelenken und Schultern baumelten bunte Stofffetzen – die Reste von Madame Dorotheas Seidentüchern und Turban. Inzwischen war das Wesen gut drei Meter groß. Aus leeren Augenhöhlen starrte es auf die vier Teenager hinab. »Gebt mir den Kelch der Engel«, forderte es mit einer Stimme wie eine heulende Windbö. »Gebt ihn mir und ich werde euch am Leben lassen.«

Voller Panik starrte Clary die anderen an. Isabelle sah aus, als hätte sie der Anblick der Kreatur wie ein Schlag in den Magen getroffen. Alec war vollkommen erstarrt. Nur Jace hatte sich – wie immer – bereits wieder gefangen: »Was bist du?«, fragte er mit fester Stimme, auch wenn er bestürzter wirkte, als Clary ihn je zuvorgesehen hatte.