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»Genau der«, sagte Jace. »Er war …«

»Das spielt jetzt keine Rolle«, unterbrach Hodge ihn. Er kam hinter dem Schreibtisch hervor, ging hinüber zu Jace und fasste seinen Schüler bei den Schultern. »Jace Wayland, weißt du, was du getan hast?«

Überrascht blickte Jace zu Hodge auf. Clary fiel auf, wie unterschiedlich beide aussahen: hier das zerfurchte, narbige Antlitz des älteren Mannes, dort das faltenlose Gesicht des Jungen – wobei die hellen Haarsträhnen, die Jace in die Augen fielen, ihn noch jünger aussehen ließen, als er tatsächlich war. »Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte Jace.

Hodges Atem kam zischend durch seine zusammengebissenen Zähne. »Du erinnerst mich so an ihn.«

»An wen?«, fragte Jace erstaunt. Ganz offensichtlich hatte Hodge noch nie zuvor so mit ihm gesprochen.

»An deinen Vater«, sagte Hodge und richtete seinen Blick nach oben, wo Hugo mit trägen Flügelschlägen über ihnen schwebte.

Hodges Augen verengten sich zu Schlitzen. »Hugin«, rief er und mit einem unheimlichen Krächzen stürzte sich der Vogel, die Krallen vorgereckt, auf Clarys Gesicht.

Clary hörte Jace rufen und im nächsten Moment war sie umgeben von flatternden Flügeln, spitzen Krallen und einem Schnabel, der unbarmherzig zustieß. Ein brennender Schmerz breitete sich auf ihrer Wange aus und sie schrie und schlug instinktiv die Hände vors Gesicht.

Sie spürte, wie der Kelch der Engel ihren Fingern entrissen wurde. »Nein!«, schrie sie und versuchte, danach zu greifen. Doch ein quälender Stich fuhr ihr durch den Arm. Ihre Beine schienen unter ihr weggezogen zu werden, sie verlor das Gleichgewicht und fiel mit den Knien hart auf den Holzboden. Spitze Klauen krallten sich in ihrer Stirn fest.

»Das reicht, Hugo«, befahl Hodge ruhig.

Gehorsam gab der Vogel Clary frei. Würgend blinzelte sie durch einen Schleier von Blutstropfen. Ihr Gesicht fühlte sich an, als sei es zerfetzt.

Hodge hatte sich nicht von der Stelle bewegt und hielt den Kelch der Engel in der Hand. Hugo umkreiste ihn aufgeregt und krächzte leise. Und Jace …Jace lag vor Hodge auf dem Boden, vollkommen reglos, als sei er plötzlich eingeschlafen.

»Jace!«, schrie Clary. Jeder andere Gedanke war wie weggefegt. Sprechen tat weh; der Schmerz in ihrer Wange traf sie wie ein Peitschenhieb und sie schmeckte Blut in ihrem Mund. Jace bewegte sich nicht.

»Er ist nicht verletzt«, sagte Hodge. Clary rappelte sich auf und wollte sich auf ihn stürzen, wurde jedoch von einer verborgenen Barriere, so hart und stark wie Glas, daran gehindert. Rasend vor Wut, schlug sie mit der Faust gegen die unsichtbare Mauer.

»Hodge!«, schrie sie und trat mit voller Wucht zu, wobei sie sich fast den Fuß verstauchte. »Machen Sie keinen Quatsch. Wenn der Rat herausfindet, was Sie getan haben …«

»Bin ich längst über alle Berge«, erwiderte er und beugte sich über Jace.

»Aber …« Die Erkenntnis durchzuckte sie wie ein Stromschlag. »Sie haben dem Rat überhaupt nicht geschrieben, richtig? Deswegen haben Sie auch so merkwürdig reagiert, als ich Sie danach gefragt hab. Sie wollten den Kelch für sich.«

»Nein«, entgegnete Hodge, »nicht für mich.«

Clarys Kehle war staubtrocken. »Sie arbeiten für Valentin«, flüsterte sie.

»Nein, ich arbeite nicht für Valentin«, sagte Hodge. Er hob Jace’ Hand und zog etwas von seinem Finger. Es war der Ring mit der Gravur, den Jace immer trug. Hodge schob ihn sich auf einen seiner Finger. »Aber es stimmt – ich bin einer von Valentins Gefolgsleuten.«

Mit einer raschen Bewegung drehte er den Ring dreimal um seinen Finger. Einen kurzen Moment lang geschah gar nichts, doch dann hörte Clary das Geräusch einer sich öffnenden Tür und wirbelte instinktiv herum, um nachzusehen, wer die Bibliothek betrat. Als sie sich wieder umdrehte, erkannte sie, dass die Luft neben Hodge flimmerte wie die Oberfläche eines weit entfernten Sees. Im nächsten Moment teilte sich die schimmernde Luftsäule wie ein silberner Vorhang und plötzlich stand ein groß gewachsener Mann neben Hodge, als hätte er sich aus der feuchten Luft materialisiert.

»Starkweather«, sagte er. »Hast du den Kelch?«

Hodge hob den Kelch hoch, schwieg allerdings. Er schien wie gelähmt – ob aus Furcht oder Verwunderung, vermochte Clary nicht zu sagen. Er war ihr stets als ein großer Mann erschienen, doch im Vergleich zu seinem Besucher wirkte er klein und gebückt. »Valentin«, stammelte er schließlich. »Ich hatte dich nicht so schnell erwartet.«

Valentin. Trotz seiner dunklen Augen besaß er nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem gut aussehenden Jungen auf dem Foto, dachte Clary. Sein Gesicht sah völlig anders aus, als sie erwartet hatte: Er wirkte beherrscht, verschlossen, in sich gekehrt – die Züge eines Priesters, mit sorgenvollen Augen. Unter den schwarzen Ärmeln seines maßgeschneiderten Anzugs ragten tiefe weiße Narben hervor, die vom jahrelangen Gebrauch der Stele zeugten. »Ich hatte dir doch gesagt, dass ich durch ein Portal zu dir kommen würde«, erwiderte er. Seine volltönende Stimme klang seltsam vertraut. »Hast du mir etwa nicht geglaubt?«

»Doch. Ich dachte nur … du würdest Pangborn oder Blackwell schicken, statt selbst zu kommen.«

»Glaubst du ernsthaft, ich würde sie entsenden, um den Kelch zu holen? Ich bin kein Narr. Ich weiß, was für eine Verlockung er darstellt.« Valentin streckte eine Hand aus und Clary sah, dass an seinem Finger ein Ring glänzte – das Gegenstück zu Jace’ Ring. »Gib mir den Kelch.«

Doch Hodge rührte sich nicht. »Zuerst gib mir das, was du mir versprochen hast.«

»Du traust mir nicht, Starkweather?« Valentin lächelte amüsiert. »Ich werde meinen Teil der Abmachung halten. Geschäft ist schließlich Geschäft. Obwohl ich allerdings sagen muss, dass ich überrascht war, als ich deine Nachricht erhielt. Ich hätte nicht gedacht, dass dir ein Leben in innerer Einkehr – um es mal so zu formulieren – missfallen würde. Du warst schließlich nie ein Freund von Krieg und Schlachtengetümmel.«

»Du weißt nicht, wie das ist«, erwiderte Hodge zischend. »Ständig in Angst und Schrecken leben zu müssen …«

»Das ist wohl wahr – das weiß ich nicht.« Valentins Stimme war so betrübt wie der Ausdruck in seinen Augen, als hätte er Mitleid mit Hodge. Doch in seinem Blick lag auch Verachtung. »Wenn du nicht vorhast, mir den Kelch zu geben, hättest du mich nicht rufen sollen«, tadelte er.

Hodges Kiefer zuckte. »Es ist nicht einfach, das zu verraten, woran man glaubt – diejenigen zu hintergehen, die einem vertrauen.«

»Meinst du die Lightwoods oder ihre Kinder?«

»Beide«, sagte Hodge.

»Ah, die Lightwoods.« Valentin streckte die Hand aus und strich über den Messingglobus auf dem Schreibtisch; seine langen Finger zeichneten die Umrisse von Kontinenten und Ozeanen nach. »Aber was schuldest du ihnen eigentlich? Dir wurde die Strafe zuteil, welche die Lightwoods verdient hatten. Hätten sie nicht Beziehungen in die höchsten Kreise des Rats gehabt, wären sie mit dir zusammen verflucht worden. Doch sie kommen und gehen, wie es ihnen gefällt; sie spazieren unter der Sonne wie alle anderen. Und sie können jederzeit nach Hause.« Er betonte den Ausdruck »nach Hause«, legte sämtliche Gefühle hinein, die diese Worte weckten. Sein Finger verharrte reglos auf dem Globus. Clary war sich sicher, dass er die Stelle berührte, an der Idris lag.

Hodge schaute betreten zur Seite. »Sie haben nur das getan, was jeder andere auch getan hätte.«

»Einen Freund an seiner statt leiden zu lassen? Du hättest so was nicht getan. Und ich hätte es auch nicht getan. Es muss dich doch mit Bitterkeit erfüllen, Starkweather, dass sie dich so einfach deinem Schicksal überließen …«

Hodges Schultern bebten. »Aber die Kinder tragen keine Schuld. Sie haben nichts getan …«

»Ich wusste gar nicht, dass du so ein großer Freund von Kindern bist, Starkweather«, bemerkte Valentin, als amüsiere ihn der Gedanke.

Hodges Atem ging rasselnd. »Jace …«

»Kein Wort über Jace.« Zum ersten Mal klang Valentin wütend. Er betrachtete die reglose Gestalt auf dem Boden. »Er blutet«, stellte er fest. »Warum?«