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Hodge presste den Kelch an seine Brust; seine Fingerknöchel standen weiß hervor. »Das ist nicht sein Blut. Er ist zwar bewusstlos, aber unverletzt.«

Valentin hob den Kopf und lächelte zuckersüß. »Ich frage mich, was er wohl von dir halten wird, wenn er erfährt, was du getan hast«, sagte er. »Betrug ist nie schön, aber ein Kind zu hintergehen – das ist doppelter Betrug, findest du nicht auch?«

»Du wirst ihm nicht wehtun«, flüsterte Hodge. »Du hast geschworen, dass du ihn nicht verletzen wirst.«

»Ich habe nichts dergleichen geschworen«, erwiderte Valentin. »Und jetzt gib mir endlich den Kelch.« Er ging ein paar Schritte auf Hodge zu, der wie ein kleines, gefangenes Tier zurückwich. Clary konnte seine Verzweiflung erkennen. »Außerdem: Was würdest du machen, wenn ich sagte, ich hätte vor, ihn zu verletzen? Würdest du dich gegen mich stellen? Mir den Kelch vorenthalten? Selbst wenn es dir gelänge, mich zu töten, würde der Rat niemals den Fluch aufheben, mit dem er dich gestraft hat. Du würdest dich bis ans Ende deiner Tage verstecken müssen, würdest dich nicht einmal trauen, auch nur ein Fenster zu weit zu öffnen. Was würdest du dafür geben, nicht länger mit dieser Furcht leben zu müssen? Was würdest du nicht alles dafür geben, nach Hause zurückkehren zu können?«

Clary blickte zur Seite; sie konnte den Ausdruck auf Hodges Gesicht nicht länger ertragen.

»Sag mir, dass du ihm nicht wehtun wirst, und ich gebe dir den Kelch«, murmelte Hodge mit erstickter Stimme.

»Nein. Du wirst ihn mir so oder so geben«, erwiderte Valentin noch leiser und streckte seine Hand aus.

Hodge schloss die Augen. Einen Moment lang erinnerte sein Gesicht an das Antlitz der Marmorengel unter dem Schreibtisch – gepeinigt, ernst und von einer schweren Last niedergedrückt. Dann stieß er einen leisen Fluch aus und hielt Valentin den Kelch der Engel entgegen. Seine Hand zitterte wie Espenlaub.

»Vielen Dank«, sagte Valentin, nahm den Kelch und betrachtete ihn nachdenklich. »Ich glaube, du hast den Rand ein wenig beschädigt.«

Hodge schwieg. Sein Gesicht war grau. Valentin bückte sich zu Jace hinunter. Als er ihn mühelos hochhob, sah Clary, wie sich der Stoff seines tadellosen Anzugs an Armen und Rücken spannte, und sie erkannte, dass Valentin ein überraschend kräftiger Mann war, dessen Rumpf an einen Eichenstamm erinnerte. Im Vergleich dazu wirkte der bewusstlose Jace in seinen Armen wie ein Kind.

»Er wird bald bei seinem Vater sein«, verkündete Valentin und betrachtete Jace’ weißes Gesicht. »Dort, wo er hingehört.«

Hodge zuckte zusammen. Valentin drehte sich um und ging auf die flimmernde Luftsäule zu, durch die er gekommen war. Offenbar hat er das Portal offen gelassen, dachte Clary und versuchte, einen Blick hindurchzuwerfen. Doch das Licht blendete sie wie ein Sonnenstrahl, der von einem Spiegel reflektiert wird.

Hodge streckte eine Hand aus. »Warte!«, rief er flehentlich. »Was ist mit deinem Versprechen? Du hast geschworen, meinen Fluch aufzuheben.«

»Das ist wahr«, sagte Valentin. Er blieb stehen und starrte Hodge konzentriert in die Augen, der daraufhin nach Luft schnappte, zurücktaumelte und mit der Hand in Richtung Brust fuhr, als hätte ihn etwas mitten ins Herz getroffen. Ein schwarzes Sekret sickerte zwischen seinen gespreizten Fingern hindurch und tropfte zu Boden. Hodge hob das von Narben gezeichnete Gesicht und sah Valentin an. »Ist es vollbracht?«, fragte er fiebrig. »Der Fluch … ist er aufgehoben?«

»Ja«, bestätigte Valentin. »Möge dir deine erkaufte Freiheit Freude bereiten.« Mit diesen Worten trat er durch die flimmernde Luftsäule. Einen Moment lang schien er selbst zu schimmern, als befände er sich unter Wasser. Dann war er verschwunden – und Jace mit ihm.

20

In der Sackgasse

Keuchend und mit zusammengeballten Fäusten starrte Hodge ihm hinterher. Seine linke Hand war von der schwarzen Flüssigkeit bedeckt, die aus seiner Brust gesickert war. Auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Freude und Selbstverachtung.

»Hodge!« Clary hämmerte mit der Hand gegen die unsichtbare Mauer zwischen ihnen. Ein heftiger Schmerz schoss ihr durch den Arm, aber das war nichts im Vergleich zu dem brennenden Schmerz in ihrer Brust. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr das Herz herausgerissen worden.Jace,Jace, Jace – sein Name hallte in ihrem Inneren; am liebsten hätte sie ihn laut herausgeschrien. Doch sie hielt sich zurück. »Hodge, lassen Sie mich raus!«

Hodge drehte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht«, sagte er, während er sich die Hand mit seinem perfekt gebügelten Taschentuch säuberte. Sein Bedauern klang aufrichtig. »Du würdest nur versuchen, mich zu töten.«

»Das würde ich nicht«, rief sie. »Ich verspreche es.« »Du bist nicht als Schattenjägerin aufgewachsen, daher haben deine Versprechen keinerlei Bedeutung«, erwiderte er. Vom Rand seines Taschentuchs stieg eine dünne Rauchsäule auf, als hätte er es in Säure getaucht. Dann schimmerte seine Hand wieder weiß. Mit gerunzelter Stirn beendete er seine Reinigungsprozedur.

»Aber Hodge«, rief Clary verzweifelt, »haben Sie denn nicht gehört, was Valentin gesagt hat? Er wird Jace umbringen.«

»Das hat er nicht gesagt.« Hodge stand nun vor seinem Schreibtisch, zog eine Schublade auf und holte ein Blatt Papier hervor. Dann nahm er einen Füllfederhalter aus seiner Sakkotasche und klopfte ihn mehrmals auf die Schreibtischkante, um die Tinte zum Fließen zu bringen. Clary starrte ihn an. Was hatte er vor? Wollte er einen Brief schreiben?

»Hodge«, setzte sie an, »Valentin hat gesagt, Jace würde bald bei seinem Vater sein. Jace’ Vater ist tot. Was könnte er also anderes gemeint haben, als ihn umzubringen?«

Hodge blickte nicht auf, sondern kritzelte etwas auf das Papier. »Das Ganze ist kompliziert. Du würdest es nicht verstehen.«

»Dafür verstehe ich aber etwas anderes.« Die Bitterkeit in ihrer Stimme fühlte sich an, als würde sie ihr die Zunge verätzen. »Ich verstehe zum Beispiel, dass Jace Ihnen vertraut hat und Sie ihn an einen Mann verkauft haben, der seinen Vater gehasst hat und wahrscheinlich auch Jace hasst – und zwar nur deshalb, weil Sie zu feige sind, mit der Strafe zu leben, die Sie verdient haben.«

Hodge hob ruckartig den Kopf. »Das glaubst du also?«

»Das weiß ich.«

Er legte den Federhalter beiseite und schüttelte den Kopf. Er wirkte müde und so alt, so viel älter als Valentin, obwohl sie ungefähr der gleiche Jahrgang sein mussten. »Du kennst nur winzige Teile der ganzen Geschichte. Und das ist auch besser so.« Er faltete den Brief zu einem exakten Quadrat und warf ihn ins Feuer, wo er mit einer leuchtend grünen Stichflamme aufloderte und dann zerfiel.

»Was machen Sie da?«, fragte Clary in forderndem Ton.

»Eine Nachricht verschicken.« Hodge drehte sich vom Feuer weg und stellte sich direkt vor sie, nur getrennt durch die unsichtbare Mauer. Clary presste ihre Hände dagegen und wünschte, sie könnte ihm die Fingernägel in die Augen graben – auch wenn diese sie traurig musterten. »Du bist noch jung«, sagte er. »Für dich hat die Vergangenheit keinerlei Bedeutung; du empfindest sie weder als ein anderes Land, so wie die Alten sie sehen, noch als Albtraum, wie die Schuldigen sie sehen. Der Rat hat mich mit diesem Fluch belegt, weil ich Valentin geholfen habe. Aber ich war keineswegs das einzige Mitglied des Kreises, das ihm gedient hat. Sind die Lightwoods nicht genauso schuldig wie ich? Und was ist mit den Waylands? Trotzdem bin ich der Einzige, der zu einem Leben fern jeden Sonnenstrahls verurteilt wurde. Ich kann keinen Fuß vor die Tür setzen, nicht mal eine Hand aus dem Fenster strecken.«

»Das ist nicht meine Schuld«, erwiderte Clary. »Und auch nicht die von Jace. Warum bestrafen Sie ihn für das, was der Rat Ihnen angetan hat? Ich kann ja verstehen, dass Sie Valentin den Kelch gegeben haben, aber Jace? Valentin wird Jace töten, genau wie er seinen Vater getötet hat …«