»Valentin hat Jace’ Vater nicht getötet«, entgegnete Hodge.
»Das glaube ich Ihnen nicht!«, schluchzte Clary nun. »Sie erzählen doch nur Lügen! Alles, was Sie jemals gesagt haben, war eine Lüge!«
»Ah«, meinte Hodge, »der moralische Absolutismus der Jugend, der keinerlei Konzessionen erlaubt. Kannst du denn nicht erkennen, Clary, dass ich auf meine Art und Weise versuche, ein guter Mensch zu sein?«
Sie schüttelte den Kopf. »So funktioniert das nicht. Ihre guten Taten machen Ihre schlechten nicht ungeschehen. Aber …« Sie biss sich auf die Lippe. »Aber wenn Sie mir verraten würden, wo ich Valentin finde …«
»Nein«, stieß er leise hervor. »Es heißt, dass die Nephilim die Kinder von Menschen und Engeln sind. Aber dieses himmlische Erbe hat nur dazu beigetragen, dass wir aus größerer Höhe fallen.« Er berührte die unsichtbare Mauer mit den Fingerspitzen. »Du bist nicht als eine der Unsrigen aufgewachsen. Du hast keinen Anteil an diesem Leben voller Narben und Töten. Du kannst immer noch fortgehen. Verlasse das Institut, Clary, so schnell wie möglich. Gehe fort und komm nie mehr zurück.«
Clary schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht«, erwiderte sie.
»Ja dann: mein herzliches Beileid.« Er drehte sich um und verließ die Bibliothek.
Als die Tür hinter Hodge ins Schloss fiel, blieb Clary in der Stille allein zurück. Außer ihrem rasselnden Atem und dem Kratzen ihrer Fingernägel an der unsichtbaren Mauer war nichts zu hören. Sie tat genau das, wovon sie wusste, dass sie es nicht tun sollte: Wieder und wieder warf sie sich gegen die unnachgiebige Barriere, bis sie erschöpft war und ihre Schulter schmerzte. Dann sank sie zu Boden und versuchte, nicht in Tränen auszubrechen.
Irgendwo jenseits dieses transparenten Hindernisses lag Alec im Sterben, während Isabelle darauf wartete, dass Hodge kam und ihm das Leben rettete. Irgendwo jenseits dieses Raums wurde Jace von Valentin unsanft aus dem Schlaf gerissen. Irgendwo jenseits dieses Instituts schwanden die Überlebenschancen ihrer Mutter mit jeder Sekunde. Und sie saß hier gefangen, so nutzlos und hilflos wie ein kleines Kind.
Plötzlich richtete Clary sich auf: Sie erinnerte sich, dass Jace ihr bei Madame Dorothea seine Stele in die Hand gedrückt hatte. Hatte sie sie ihm überhaupt zurückgegeben? Atemlos griff sie in ihre linke Jackentasche; sie war leer. Langsam schob sie ihre Hand in die rechte Tasche. Ihre klammen Finger ertasteten ein paar Fussel und dann etwas Hartes, glatt und rund – die Stele.
Mit klopfendem Herzen sprang Clary auf; dann tastete sie mit der linken Hand nach der unsichtbaren Mauer. Als sie sie gefunden hatte, atmete sie tief durch und schob die Stele vorsichtig vorwärts, bis ihre Spitze die Barriere berührte. Tief in ihrem Inneren bildete sich bereits ein Symbol – wie ein Fisch, der im trüben Wasser auftaucht und dessen Schuppen immer deutlicher hervortreten, je näher er der Oberfläche kommt. Langsam bewegte sie die Stele über die Mauer, zunächst zögernd, doch dann immer sicherer, bis die grell strahlenden Linien vor ihr in der Luft schwebten.
Sie konnte förmlich spüren, dass die Rune vollendet war, und ließ die Hand sinken; ihr Atem ging schnell. Einen Moment lang blieb alles reglos und still und die Rune hing wie eine leuchtende Neonschrift in der Luft, brannte ihr in den Augen. Doch dann ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen, als stünde sie unter einem tosenden Wasserfall aus Steinen. Die Rune verfärbte sich schwarz und zerfiel zu Asche; der Boden unter ihren Füßen bebte, dann war es plötzlich wieder still. Aber Clary wusste, dass sie frei war.
Mit der Stele in der Hand rannte sie zum Fenster und schob den Vorhang beiseite. Die Dämmerung war angebrochen und die Straßen unter ihr schimmerten rötlich im warmen Abendlicht. Plötzlich entdeckte sie Hodge, der eine Seitenstraße überquerte; sein grauer Schopf ragte aus der Menschenmenge heraus.
Clary stürzte aus der Bibliothek, den Korridor entlang und die Treppe hinunter. Sie blieb nur kurz stehen, um die Stele wieder in ihre Jackentasche zu stecken. So schnell sie konnte, rannte sie auf die Straße, und als sie auf dem Gehweg stand, hatte sie bereits Seitenstiche. Die Leute, die im schwülen Dämmerlicht ihre Hunde ausführten, sprangen beiseite, als Clary sich einen Weg über den Bürgersteig bahnte, der parallel zum East River verlief. Als sie um eine Ecke bog, sah sie kurz ihr Spiegelbild im Fenster eines Mietshauses. Ihre Haare klebten schweißfeucht an ihrer Stirn und ihr Gesicht war mit getrockneten Blutspritzern übersät.
Endlich erreichte sie die Straßenkreuzung, an der sie Hodge gesehen hatte. Einen Moment lang dachte sie, sie hätte ihn verloren. Sie stürzte sich in die Menge, die aus dem U-BahnSchacht herausdrängte, stieß die Passanten beiseite, indem sie ihre Knie und Ellbogen wie Waffen einsetzte. Als sie die Menschenmassen endlich hinter sich gelassen hatte, entdeckte sie gerade noch rechtzeitig einen Zipfel von Hodges Tweedanzug, der in eine schmale Lieferantengasse zwischen zwei Gebäuden einbog.
Vorsichtig drückte sie sich an dem Müllcontainer am Eingang der Gasse vorbei, ihre Kehle brannte bei jedem Atemzug. Obwohl die Hauptstraßen noch im Dämmerlicht gelegen hatten, herrschte in der Gasse bereits nachtschwarze Dunkelheit. An ihrem anderen Ende, das von der Rückseite eines Schnellimbisses begrenzt wurde, konnte sie Hodge gerade so noch erkennen. Vor der Hintertür des Imbisses stapelten sich Restaurantabfälle: Müllsäcke mit Essensresten, schmutzige Papierteller und benutztes Plastikbesteck, das unangenehm unter Hodges Schuhen knirschte, als er sich zu ihr umdrehte. Clary erinnerte sich an ein Gedicht, das sie in der Schule gelesen hatten: Ich denke, wir sind in der Sackgasse / Wo die Toten ihre Gebeine verloren haben.
»Du bist mir gefolgt«, sagte er. »Das hättest du nicht tun sollen.«
»Ich lasse Sie in Ruhe, wenn Sie mir verraten, wo Valentin ist.«
»Das kann ich nicht«, erwiderte er. »Er würde sofort wissen, dass ich es dir erzählt habe, und dann wäre es mit meiner Freiheit und meinem Leben vorbei.«
»Das ist es sowieso, wenn der Rat herausfindet, dass Sie Valentin den Kelch der Engel gegeben haben«, konterte Clary. »Nachdem Sie uns mit einem Trick dazu gebracht haben, ihn für Sie zu finden. Wie können Sie nur damit leben? Sie wissen doch, was Valentin mit dem Kelch vorhat.«
Er unterbrach sie mit einem kurzen Lachen. »Ich fürchte Valentin mehr als den Rat und das solltest du auch, wenn du schlau bist«, höhnte er. »Er hätte den Kelch gefunden, mit oder ohne meine Hilfe.«
»Und es ist Ihnen egal, dass er mit dem Kelch kleine Kinder töten wird?«
In seinem Gesicht zuckte ein Muskel; dann kam er schnell auf sie zu. Clary sah, dass er etwas Glänzendes in der Hand hielt. »Macht dir das wirklich so viel aus?«
»Ich habe es Ihnen ja schon gesagt«, erwiderte sie. »Ich kann nicht einfach fortgehen.«
»Jammerschade«, meinte er. Clary sah, dass er den Arm hob, und erinnerte sich plötzlich an Jace’ Worte: Das Chakram sei Hodges bevorzugte Waffe gewesen. Sie duckte sich, noch ehe sie die leuchtende, rasiermesserscharfe Metallscheibe auf sich zufliegen sah. Sirrend zischte sie an ihrem Kopf vorbei und bohrte sich in die metallene Feuerleiter zu ihrer Linken, nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt.
Clary blickte auf. Hodge musterte sie; das zweite Chakram lag bereits in seiner rechten Hand. »Du kannst immer noch weglaufen«, rief er.
Instinktiv hob sie die Hände, obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass die Metallscheibe sie zerfetzen würde. »Hodge …«
Plötzlich raste etwas an Clary vorbei, etwas Großes, Grauschwarzes und sehr Lebendiges. Sie hörte Hodge entsetzt aufschreien. Während sie strauchelnd zurückwich, konnte sie die Kreatur besser erkennen, die auf Hodge zulief. Es war ein schwerer, zwei Meter großer Wolf mit nachtschwarzem Fell, das einen einzelnen grauen Streifen aufwies.
Hodge hielt das Chakram wurfbereit; er war kreidebleich. »Du bist es«, stieß er hervor. Überrascht erkannte Clary, dass er mit dem Wolf redete. »Ich dachte, du wärst geflohen …«