Der Wolf zog die Lefzen zurück, sodass seine scharfen Zähne und die lange rote Zunge zum Vorschein kamen. Als er Hodge musterte, funkelte Hass in seinen Augen – abgrundtiefer, menschlicher Hass.
»Bist du meinetwegen hier oder wegen des Mädchens?«, fragte Hodge. Schweißperlen liefen seine Schläfen hinab, doch seine Hand war ruhig.
Mit einem tiefen Knurren schlich der Wolf auf Hodge zu.
»Es ist noch nicht zu spät«, stammelte Hodge. »Valentin würde dich wieder bei sich aufnehmen …«
Heulend setzte der Wolf zum Sprung an. Hodge schrie erneut, dann blitzte etwas Silbermetallisches auf und das Chakram bohrte sich mit einem entsetzlichen Geräusch in die Flanke des Tiers. Der Wolf bäumte sich auf und Clary sah die Metallscheibe in seinem blutenden Pelz aufleuchten, als er sich auf Hodge stürzte.
Mit einem Schrei ging Hodge zu Boden, die Zähne des Wolfs bohrten sich in seine Kehle. Blut spritzte wie aus einer explodierenden Sprühdose, klatschte gegen die Mauer und färbte sie rot. Der Wolf hob den Kopf, wandte sich von dem leblosen Körper ab und richtete seine grauen, wölfischen Augen auf Clary, während scharlachrote Tropfen von seinen Zähnen trieften.
Clary wollte schreien, hatte aber nicht genug Luft in den Lungen, um auch nur irgendein Geräusch zu erzeugen. Stattdessen rappelte sie sich auf und rannte los, in Richtung der Gassenmündung, der vertrauten Neonlichter der Hauptstraße, in Richtung von Sicherheit und Realität. Hinter sich konnte sie den Wolf knurren hören, seinen heißen Atem an ihren nackten Waden spüren. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte warf sie sich in Richtung Straße …
Das Maul des Wolfs schloss sich um ihr Bein und riss sie zurück. Kurz bevor ihr Kopf auf dem harten Steinboden auftraf und Dunkelheit ihren Geist umhüllte, stellte sie fest, dass sie doch noch genug Luft zum Schreien besaß.
Sie erwachte vom Geräusch tropfenden Wassers. Langsam öffnete sie die Augen, allerdings gab es um sie herum nicht viel zu sehen: Sie lag auf einer breiten Pritsche, die auf dem Boden eines kleinen, schmuddeligen Raums stand. An einer Wand lehnte ein wackliger Tisch, auf dem ein billiger Messingkerzenständer eine dicke rote Kerze hielt. Ihr Licht warf flackernde Schatten an die unebene, feuchte Decke; eine dunkle Flüssigkeit sickerte durch ihre Risse. Clary hatte das unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas an dem Raum nicht stimmte, dass etwas fehlte, doch jeder Gedanke daran wurde von einem überwältigenden Geruch nach nassem Hundefell verdrängt.
Sie setzte sich auf und wünschte sofort, sie hätte sich nicht von der Stelle gerührt. Bohrende Kopfschmerzen pochten in ihrem Schädel, gefolgt von einem quälenden Anflug von Übelkeit. Wenn sie irgendetwas im Magen gehabt hätte, hätte sie sich jetzt übergeben.
Über der Pritsche baumelte ein Spiegel an einem Nagel, den jemand zwischen zwei Mauersteine geschlagen hatte. Sie warf einen Blick hinein und schrak entsetzt zurück. Kein Wunder, dass ihr Gesicht derart schmerzte – von ihrem rechten Auge erstreckten sich mehrere lange, tiefe Kratzer bis zu ihrem Mundwinkel. Ihre rechte Wange war blutverkrustet und auch ihr Hals und der vordere Bereich ihres T-Shirts und ihrer Jacke starrten vor Blut. In einem plötzlichen Anfall von Panik griff sie in ihre Tasche und entspannte sich wieder. Die Stele war noch da.
In diesem Moment erkannte sie auch, was an dem Raum so merkwürdig war. Eine der Wände bestand nicht aus Steinen, sondern aus einem Gitter – dicke Eisenstäbe, die von der Decke bis zum Boden reichten. Sie befand sich in einer Gefängniszelle.
Adrenalin schoss durch ihre Adern und Clary versuchte, schwankend aufzustehen. Ein starker Schwindelanfall erfasste sie wie eine Woge und sie klammerte sich am Tisch fest. Ich werde nicht in Ohnmacht fallen, ermahnte sie sich eisern. Und dann hörte sie Schritte.
Irgendjemand kam den Flur vor der Zelle entlang. Clary wich zurück und lehnte sich gegen den Tisch.
Es war ein Mann. Er trug eine Laterne, deren Licht viel heller strahlte als der matte Schein der roten Kerze und Clary blendete. Sie musste blinzeln und konnte nur eine schattenartige, große Gestalt ausmachen, mit breiten Schultern und wirrem Haar. Erst als sie die Zellentür öffnete und den Raum betrat, erkannte sie, wer es war.
Er sah aus wie immer: alte Jeans, dickes Holzfällerhemd, Arbeitsstiefel, strubblige Haare, hochgeschobene Brille. Die Narben an seiner Kehle, die sie bei ihrem letzten Besuch in seiner Wohnung bemerkt hatte, waren größtenteils verheilt und schimmerten hell.
Luke.
Plötzlich wurde es Clary einfach zu viel. Erschöpfung, der Mangel an Schlaf und Nahrung, das Gefühl der Angst und der Blutverlust schlugen über ihr zusammen wie eine tosende Welle. Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben und ihr die Beine wegsackten.
Im Bruchteil einer Sekunde war Luke bei ihr. Er durchquerte den Raum derart schnell, dass sie nicht einmal den Boden berührt hatte, als er sie auch schon auffing und hochhob – so wie er sie als kleines Kind in die Luft gewirbelt hatte. Er legte sie auf die Pritsche, trat einen Schritt zurück und musterte sie besorgt. »Clary? Alles in Ordnung?«, fragte er und streckte eine Hand nach ihr aus.
Clary zuckte zurück und riss abwehrend die Hände hoch. »Fass mich nicht an.«
Auf seinem Gesicht spiegelten sich Kränkung und tief empfundener Schmerz. Müde fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. »Ich schätze, das habe ich wohl verdient.«
»Ja, das hast du.«
»Ich gehe besser nicht davon aus, dass du mir vertraust …«, sagte er betrübt.
»Gut so. Denn das tue ich nicht.«
»Clary …« Er wanderte in der Zelle auf und ab. »Was ich getan habe … ich erwarte nicht, dass du das verstehst. Ich weiß, du fühlst dich von mir im Stich gelassen …«
»Genau das hast du ja auch getan«, erwiderte sie. »Du hast mir gesagt, ich solle dich nicht mehr anrufen. Ich habe dir nie etwas bedeutet und meine Mutter auch nicht. Das waren alles nur Lügen.«
»Nein, nicht alles«, widersprach er.
»Dann ist Luke Garroway also dein richtiger Name?«
Schuldbewusst ließ er die Schultern hängen. »Nein«, sagte er und blickte an sich herab. Ein dunkelroter Fleck breitete sich auf seinem blauen Holzfällerhemd aus.
Clary richtete sich kerzengerade auf. »Ist das Blut?«, fragte sie entschlossen. Einen Moment lang vergaß sie ihre Wut.
»Ja«, bestätigte Luke, eine Hand gegen seine Seite gedrückt. »Die Wunde muss wieder aufgegangen sein, als ich dich hochgehoben habe.«
»Welche Wunde?«, hakte Clary nach.
Er seufzte und wählte seine Worte bedachtsam: »Hodges Metallscheiben sind noch immer messerscharf, auch wenn sein Wurfarm nicht mehr das ist, was er früher mal war. Ich denke, er hat mir eine Rippe angeritzt.«
»Hodge?«, fragte Clary. »Wann hast du ihn denn …?«
Schweigend sah er sie an. Plötzlich erinnerte sie sich an den Wolf in der Gasse, mit der einzelnen grauen Strähne in seinem schwarzen Fell, und daran, wie das Wurfgeschoss ihn in der Flanke getroffen hatte. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.
»Du bist ein Werwolf.«
Luke nahm die Hand von seinem Hemd; seine Finger waren blutverschmiert. »Ja«, erwiderte er lakonisch, ging zu einer der Mauern und klopfte fest dagegen: einmal, zweimal, dreimal. Dann wandte er sich ihr wieder zu. »Ich bin ein Werwolf.«
»Du hast Hodge getötet«, sagte sie, als sie sich wieder an die Szene in der Gasse erinnerte.
»Nein.« Luke schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn schwer verletzt, aber als ich später zurückging, um den Leichnam zu beseitigen, war er verschwunden. Er muss sich irgendwie aus der Gasse geschleppt haben.«
»Du hast ihn in die Kehle gebissen. Das habe ich gesehen.«
»Ja. Allerdings möchte ich darauf hinweisen, dass er dich gerade umbringen wollte. Hat er sonst noch jemanden verletzt?«
Clary biss sich auf die Lippe. Sie schmeckte Blut, doch es handelte sich um altes Blut, von der Verletzung, die Hugo ihr beigebracht hatte. »Jace«, stieß sie flüsternd hervor. »Hodge hat ihm irgendetwas verabreicht und dann … Valentin übergeben.«