»Valentin?« Luke blickte erstaunt auf. »Ich wusste, dass Hodge Valentin den Kelch der Engel gegeben hat, aber mir war nicht klar …«
»Woher weißt du das?«, unterbrach Clary ihn, doch dann fiel es ihr wieder ein. »Du hast mich mit Hodge in der Gasse reden hören. Ehe du ihn angefallen hast.«
»Ich habe ihn angefallen, wenn du es so nennen willst, weil er im Begriff war, dir den Kopf abzutrennen«, entgegnete Luke und drehte sich um, als die Zellentür erneut aufging. Ein großer Mann kam herein, gefolgt von einer winzigen Frau, die so klein war, dass sie fast wie ein Kind wirkte. Beide trugen schlichte Freizeitkleidung: Jeans und Baumwollhemden. Und beide besaßen die gleichen wirren Haare – auch wenn die Frau blond war und der Mann grau meliert – und die gleichen alterslosen Gesichter, ohne jede Falte, aber mit müden Augen. »Clary«, sagte Luke, »darf ich dir Nummer Eins und Nummer Zwei vorstellen: Gretel und Alaric.«
Alaric senkte seinen massiven Kopf und nickte Clary zu. »Wir sind uns schon mal begegnet.«
Clary starrte ihn beunruhigt an. »Tatsächlich?«
»Ja, im Hotel Dumort«, erklärte er. »Du hast mir einen Dolch zwischen die Rippen gejagt.«
Sie kauerte sich an die Wand. »Ich, äh … es tut mir leid …«
»Das muss es nicht. Schließlich war es ein exzellenter Wurf.« Er griff in seine Brusttasche, holte Jace’ Dolch mit dem rot schimmernden Knauf hervor und hielt ihn ihr entgegen. »Ich glaube, der gehört dir, oder?«
»Aber …«, stammelte Clary.
»Keine Sorge«, beruhigte er sie. »Ich habe die Klinge gesäubert.«
Wortlos nahm sie den Dolch entgegen. Luke lachte leise in sich hinein. »Aus heutiger Sicht war der Überfall auf das Hotel Dumort vielleicht doch nicht so gut organisiert, wie er hätte sein sollen«, meinte er. »Ich hatte eine Gruppe meiner Wölfe beauftragt, auf dich aufzupassen und dir zu folgen, falls du in Gefahr schweben solltest. Und als du dann in das Dumort hineinmarschiert bist …«
»Jace und ich wären auch ohne Hilfe klargekommen.« Clary schob den Dolch in ihren Gürtel.
Gretel betrachtete sie mit einem milden Lächeln. »Hatten Sie uns aus diesem Grund gerufen, Sir?«
»Nein«, erwiderte Luke und berührte seine Seite. »Meine Wunde ist wieder aufgegangen und Clary hat auch ein paar Verletzungen, die behandelt werden müssten. Wenn du dich darum kümmern könntest …«
Gretel nickte. »Ich komme gleich mit dem Verbandszeug zurück«, sagte sie und verließ die Zelle, wobei Alaric ihr wie ein überdimensionierter Schatten folgte.
»Sie hat dich ›Sir‹ genannt«, stellte Clary in dem Moment fest, als die Zellentür sich hinter ihnen schloss. »Und was meinst du mit ›Nummer Eins‹ und ›Nummer Zwei‹?«
»Mein Erster und Zweiter Offizier«, erwiderte Luke gedehnt. »Ich bin der Anführer dieses Wolfsrudels. Deshalb hat Gretel mich auch mit ›Sir‹ angesprochen. Glaub mir, es hat ziemlich viel Mühe gekostet, ihr abzugewöhnen, mich ›Gebieter‹ zu nennen …«
»Hat meine Mutter davon gewusst?«
»Wovon gewusst?«
»Dass du ein Werwolf bist.«
»Ja. Sie wusste es seit dem Moment, in dem es geschah.«
»Aber natürlich hat keiner von euch beiden es für nötig gehalten, mir davon zu erzählen.«
»Ich wollte es dir sagen«, erwiderte Luke. »Aber deine Mutter war fest entschlossen, dass du nichts von der Verborgenen Welt und den Schattenjägern erfahren solltest. Und ich hätte dir meine Existenz als Werwolf nicht als einzelnen, unabhängigen Vorfall auftischen können, Clary. Das alles ist Teil eines größeren Ganzen, das deine Mutter aber vor dir verbergen wollte. Ich weiß nicht, was du inzwischen alles herausgefunden hast …«
»Eine Menge«, sagte Clary tonlos. »Ich weiß, dass meine Mutter eine Schattenjägerin war. Ich weiß, dass sie mit Valentin verheiratet war und dass sie ihm den Kelch der Engel entwendet und sich vor ihm versteckt hat. Ich weiß, dass sie mich seit meiner Geburt alle zwei Jahre zu Magnus Bane gebracht hat, damit er mir mein Zweites Gesicht nahm. Ich weiß, dass Valentin von dir den Aufenthaltsort des Kelchs erfahren wollte, im Tausch gegen das Leben meiner Mutter, und dass du ihm daraufhin geantwortet hast, sie wäre dir egal.«
Luke blickte zur Seite. »Ich wusste nicht, wo sich der Kelch befand. Jocelyn hat es mir nie gesagt«, murmelte er.
»Du hättest versuchen können, einen Handel mit Valentin zu vereinbaren …«
»Valentin verhandelt nicht. Das hat er noch nie. Wenn er nicht ganz klar im Vorteil ist, kommt er noch nicht einmal zu einem Verhandlungsgespräch. Er ist vollkommen auf sein Ziel fixiert und kennt kein Erbarmen. Und obwohl er deine Mutter einst geliebt haben mag, würde er keine Sekunde zögern, sie zu töten. Nein, ich hatte nicht vor, mit Valentin zu feilschen.«
»Und deshalb hast du beschlossen, sie einfach im Stich zu lassen?«, erwiderte Clary wütend. »Du bist der Anführer eines ganzen Rudels von Werwölfen und bist einfach zu dem Schluss gekommen, dass sie deine Hilfe nicht benötigt? Es war schon schlimm genug, als ich dachte, du wärst ein Schattenjäger und hättest dich wegen irgendeines blöden Schattenjägerschwurs von ihr abgewendet. Aber jetzt weiß ich, dass du nur ein mieses Schattenwesen bist, dem es nicht die Bohne bedeutet, dass sie dich all die Jahre wie einen Freund, wie einen der ihren behandelt hat. Und so dankst du es ihr!«
»Du solltest dich mal hören«, sagte Luke ruhig. »Du klingst wie eine Lightwood.«
Clary kniff die Augen zusammen. »Rede nicht von Alec und Isabelle, als ob du sie kennen würdest.«
»Ich meinte ihre Eltern«, entgegnete Luke. »Die ich übrigens sehr gut kannte – damals, als wir alle noch Schattenjäger waren.«
Clary öffnete überrascht den Mund. »Ich weiß ja, dass du dem Kreis angehört hast, aber wie hast du es vor ihnen verbergen können, dass du ein Werwolf bist? Haben sie es nicht gewusst?«
»Nein«, sagte Luke. »Denn ich bin nicht als Werwolf geboren worden – ich wurde zu einem gemacht. Und eines ist mir klar: Wenn ich dich davon überzeugen will, mir zu vertrauen, dann solltest du meine ganze Vergangenheit kennen. Es ist eine lange Geschichte, aber ich denke, wir haben genügend Zeit.«
III
Der Abstieg lockt
Der Abstieg lockt, wie der Aufstieg lockte.
21
Die Geschichte des Werwolfs
Tatsächlich kenne ich deine Mutter bereits seit unserer Kindheit. Wir sind zusammen in Idris aufgewachsen. Es ist ein wundervolles Land und ich habe immer bedauert, dass du nie dort gewesen bist. Es würde dir bestimmt gefallen – die dunklen, glänzenden Tannen im Winter, die schwere Erde und die kalten, kristallklaren Flüsse. Neben ein paar kleineren Orten gibt es eine große Stadt, Alicante, in der der Rat zusammentritt. Man nennt sie auch die Gläserne Stadt, weil ihre Türme aus derselben, dämonenabstoßenden Substanz erschaffen wurden, aus der auch unsere Stelen bestehen und die im Sonnenlicht schimmert wie Glas.
Als Jocelyn und ich alt genug waren, wurden wir nach Alicante zur Schule geschickt. Dort bin ich auch zum ersten Mal Valentin begegnet. Er war ein Jahr älter als ich und der beliebteste Schüler der ganzen Schule. Valentin sah gut aus, er war schlau, reich, entschlossen, ein großartiger Kämpfer. Ich war ein Nichts – weder reich noch besonders intelligent, aus einer der armen Familien vom Land. Beim Lernen kam ich kaum mit. Jocelyn war eine geborene Schattenjägerin; ich dagegen tat mich schwer. Ich ertrug nicht einmal die kleinsten Male und brachte selbst die simpelsten Techniken durcheinander. Manchmal war ich nahe dran, einfach wegzulaufen und in Schimpf und Schande nach Hause zurückzukehren. Ich habe sogar darüber nachgedacht, ein Irdischer zu werden – so unglücklich war ich.
Valentin hat mich gerettet. Eines Tages besuchte er mich auf meinem Zimmer – bis dahin hatte ich gedacht, er würde noch nicht mal meinen Namen kennen – und bot mir an, mir zu helfen. Er sagte, er wisse, wie schwer mir das Ganze fiele, doch er sähe in mir die Anlagen für einen großartigen Schattenjäger. Unter seiner Obhut verbesserte ich mich tatsächlich – ich bestand meine Prüfungen, trug meine ersten Male, tötete meinen ersten Dämon.