Mit einem verächtlichen Schnauben packte Valentin sie, zog sie an sich und presste ihr seinen Dolch an die Kehle. Ich ließ mein Schwert sinken, denn ich wollte nicht, dass er sie verletzte. Dann sah er es in meinen Augen. »Du hast sie immer schon gewollt«, zischte er. »Und jetzt habt ihr beiden euch gegen mich verschworen. Das werdet ihr noch bereuen, und zwar für den Rest eures Lebens.«
Mit diesen Worten riss er Jocelyn das Medaillon vom Hals und schleuderte es mir entgegen. Die Silberkette traf meine Haut wie eine Peitsche. Ich brüllte vor Schmerz und stolperte rückwärts und im selben Moment verschwand er im Handgemenge, Jocelyn mit sich ziehend. Ich folgte ihm, verbrannt und blutend, doch er war zu schnell für mich, bahnte sich mit schweren Hieben einen Weg durch die Kämpfenden und die Toten.
Ich stolperte hinaus ins Mondlicht. Die Große Halle brannte und das Feuer hatte die Nacht zum Tag gemacht. Ich rannte die grünen Rasenflächen der Hauptstadt hinunter bis zum dunklen Fluss und suchte die Uferstraße ab, auf der die Menschen in die Nacht flohen. Schließlich fand ich Jocelyn irgendwo am Fluss. Valentin war verschwunden und sie hatte schreckliche Angst um Jonathan und wollte unbedingt zurück nach Hause. Wir fanden ein Pferd und sie galoppierte davon. Ich wechselte in meine Wolfsgestalt und folgte ihr, so gut ich konnte.
Wölfe sind schnell, doch ein ausgeruhtes Pferd läuft schneller. Irgendwann fiel ich zurück und sie kam lange vor mir am Herrenhaus an.
Schon als ich mich dem Haus näherte, wusste ich, dass irgendetwas Schreckliches passiert sein musste. Auch hier hing der Geruch von Feuer in der Luft, jedoch überlagert von irgendetwas anderem – dem süßlichen Gestank eines Dämonenzaubers. Ich wurde wieder zum Mann und humpelte die lange Auffahrt hinauf, die im Mondlicht vor mir lag, so hell wie ein Silberfluss … bis ich auf die Ruinen stieß. Jemand hatte das Herrenhaus in Schutt und Asche gelegt und der Nachtwind verstreute die weißen Flocken weithin über die Felder der Umgebung. Die Grundmauern waren noch zu erkennen, weiß wie verbrannte Knochen: hier ein Fenster, dort ein Kamin – doch vom eigentlichen Haus, seinen Ziegeln, dem Mörtel, den unbezahlbaren Büchern und den uralten Wandteppichen, die von Generation zu Generation weitervererbt worden waren, sah man nichts mehr außer feinem Staub, der durch das Mondlicht schwebte.
Valentin hatte das Haus mit Dämonenfeuer zerstört. So muss es gewesen sein: Kein irdisches Feuer brennt so heiß oder lässt so wenige Reste zurück.
Ich bahnte mir einen Weg durch die immer noch schwelenden Trümmer und fand Jocelyn schließlich. Sie kniete auf etwas, das einst die Vordertreppe gewesen sein musste. Die Stufen waren schwarz vor Ruß. Und dann sah ich die Knochen. Völlig verkohlt, aber erkennbar menschlicher Herkunft, umgeben von Tuchfetzen und Juwelen, die das Feuer nicht verschlungen hatte. Rote und goldene Fäden hingen noch an den Knochen von Jocelyns Mutter und die Hitze hatte den Dolch ihres Vaters mit seiner Skeletthand verschmolzen. Auf einem anderen Knochenstapel glitzerte Valentins silbernes Amulett mit den immer noch weiß glühenden Insignien des Kreises … und verstreut unter den übrigen Resten, fanden sich die Knochen eines Kindes – als ob sie zu klein und leicht gewesen wären, um beieinanderzubleiben.
Das werdet ihr noch bereuen , hatte Valentin gesagt. Und während ich neben Jocelyn auf den verbrannten Stufen kniete, wusste ich, dass er recht behalten würde. Ich habe es damals bereut und ich bereue es seither jeden Tag meines Lebens.
In jener Nacht ritten wir zurück in die Stadt, durch die immer noch wütenden Feuer und die schreienden Menschenmassen hindurch, hinaus in die Dunkelheit des weiten Landes. Es dauerte eine Woche, bis Jocelyn wieder sprach. Ich nahm sie mit mir und wir verließen Idris und flohen nach Paris. Wir hatten kein Geld, aber sie weigerte sich, das dortige Institut aufzusuchen und um Hilfe zu bitten. Sie hatte ein für alle Mal genug von den Schattenjägern, erzählte sie mir, ein für alle Mal genug von der Verborgenen Welt.
Wir saßen in dem winzigen, billigen Hotelzimmer, das wir gemietet hatten, und ich versuchte, sie zu überzeugen, aber ohne Erfolg – sie blieb stur. Irgendwann gestand sie mir den Grund dafür: Sie trug ein weiteres Kind unter dem Herzen, hatte schon seit Wochen gewusst, dass sie wieder schwanger war. Sie wünschte sich ein neues Leben für sich und ihr Baby und wollte unbedingt verhindern, dass das Kind jemals etwas vom Rat oder vom Bündnis erfuhr. Dann zeigte sie mir das Amulett, das sie von dem Knochenstapel an sich genommen hatte. Sie verkaufte es auf dem Flohmarkt von Clignancourt und erwarb von dem Geld ein Flugticket. Sie wollte mir nicht sagen, wohin die Reise ging; je weiter sie von Idris entfernt sei, sagte sie, desto besser.
Ich wusste, dass sie mit ihrem alten Leben auch mich zurücklassen würde, und versuchte, sie zum Bleiben zu bewegen, doch ohne Erfolg. Ich war mir sicher: Wenn sie kein Kind unter dem Herzen getragen hätte, hätte sie sich selbst umgebracht. Und da es immer noch besser war, sie an die Welt der Irdischen zu verlieren als an den Tod, stimmte ich ihren Plänen letztlich widerstrebend zu.
Dann kam der Moment unseres Abschieds am Flughafen. Und die letzten Worte, die Jocelyn in dieser trostlosen Abflughalle zu mir sagte, trafen mich bis ins Mark: »Valentin ist nicht tot.«
Nachdem sie verschwunden war, kehrte ich zu meinem Rudel zurück, doch ich fand keinen Frieden dort. Eine unstillbare Sehnsucht ließ mich nicht mehr los und jeden Morgen erwachte ich mit ihrem Namen unausgesprochen auf meinen Lippen. Ich wusste, dass ich nicht mehr der Anführer war, der ich einst gewesen war. Ich handelte gerecht und fair, blieb aber immer distanziert und ich fand unter den Wolfsmenschen weder Freunde noch eine Gefährtin. Letzten Endes war ich zu sehr Mensch, zu sehr Schattenjäger, um unter Werwölfen wirklichen Frieden zu finden. Ich ging auf die Jagd, doch auch das schenkte mir keine Befriedigung; und als die Zeit für die Unterzeichnung des Abkommens endlich gekommen war, ging ich in die Stadt, um meine Unterschrift zu leisten.
In der Großen Halle des Erzengels, in der man inzwischen sämtliche Spuren jener blutigen Nacht beseitigt hatte, trafen sich die Schattenjäger und die vier Rassen der Halbmenschen ein weiteres Mal, um jenes Abkommen zu unterzeichnen, das uns allen den Frieden bringen würde. Ich war überrascht, die Lightwoods anzutreffen, die ihrerseits genauso überrascht schienen, dass ich noch lebte. Sie erzählten, dass sie neben Hodge Starkweather und Michael Wayland die einzigen Mitglieder des Kreises seien, die jene Nacht in der Großen Halle überlebt hätten. Michael, der die Trauer über den Verlust seiner Frau nicht verwinden konnte, hatte sich zusammen mit seinem jungen Sohn auf sein Landgut zurückgezogen. Die anderen drei waren vom Rat mit Verbannung bestraft worden: Sie würden bald nach New York aufbrechen, um das dortige Institut zu leiten. Dabei waren die Lightwoods dank ihrer Beziehungen zu den höchsten Kreisen des Rates mit einer viel leichteren Strafe davongekommen als Hodge. Der Rat hatte ihn mit einem Fluch belegt: Er sollte mit den Lightwoods nach New York gehen, doch sobald er versuchte, den geweihten Boden des dortigen Instituts zu verlassen, würde er augenblicklich einen grausamen Tod sterben. Hodge wollte sich in New York seinen Studien widmen, erzählten sie, und würde ihren Kindern bestimmt ein großartiger Tutor sein.
Nach der Unterzeichnung des Abkommens erhob ich mich von meinem Stuhl, verließ die Halle und ging hinunter zum Fluss, wo ich Jocelyn in jener Nacht gefunden hatte. Ich stand dort, betrachtete die dunklen Fluten und wusste, ich würde in meiner Heimat nie mehr Frieden finden. Ich wollte bei ihr sein und nirgendwo sonst. Damals nahm ich mir vor, sie zu suchen.