Ich verließ mein Rudel und ernannte einen anderen Anführer – ich glaube, sie waren erleichtert, dass ich fortging. Ich reiste so, wie ein Wolf ohne Rudel reist: allein, immer bei Nacht, auf den Nebenstraßen und Landstraßen. Als Erstes kehrte ich nach Paris zurück, fand aber dort keine Spur mehr von ihr. Von dort aus fuhr ich nach London und nahm schließlich ein Schiff nach Boston.
Nach einer Weile in dieser Stadt ging ich schließlich in die Weißen Berge des hohen Nordens. Lange Jahre blieb ich auf Reisen, doch mit der Zeit dachte ich immer häufiger an New York und an die Schattenjäger, die dort im Exil lebten. In gewisser Weise war das ja auch Jocelyns Schicksal. Irgendwann kam ich in New York an, mit nichts als einer Reisetasche in der Hand; ich hatte keine Ahnung, wo ich nach deiner Mutter suchen sollte. Es wäre ein Leichtes gewesen, ein Wolfsrudel zu finden und mich ihm anzuschließen, doch ich widerstand der Versuchung. Stattdessen sandte ich, wie schon in anderen großen Städten, Botschaften in die Schattenwelt aus mit der Frage, ob irgendjemand Jocelyn gesehen hatte. Doch es kam keine Antwort, nichts – es schien, als ob sie ohne einen Hinweis in der Welt der Irdischen verschwunden war. Langsam begann ich zu verzweifeln.
Schließlich fand ich sie durch einen Zufall. Eines Tages streifte ich ziellos durch die Straßen von SoHo, als mir im Fenster einer Galerie auf der Broome Street ein Gemälde ins Auge fiel. Es handelte sich um die Darstellung einer Landschaft, die ich sofort wiedererkannte: der Blick aus dem Fenster ihres Elternhauses. Grüne Rasenflächen führten in einem kühnen Schwung hinunter zu einer Baumreihe, welche die dahinterliegende Straße verbarg. Ich erkannte ihren Malstil, ihre Pinselführung, jedes einzelne Detail. Ich hämmerte gegen die Tür der Galerie, doch sie war verschlossen. Also sah ich mir das Bild noch einmal genau an und dann entdeckte ich ihre Signatur. Damals las ich zum ersten Mal ihren neuen Namen: Jocelyn Fray.
Noch am selben Abend habe ich sie gefunden. Sie lebte in einem fünfstöckigen Haus ohne Aufzug, mitten im Künstlerviertel East Village. Mit pochendem Herzen stieg ich das halbdunkle Treppenhaus hinauf und klopfte an. Die Tür ihrer Wohnung öffnete sich und vor mir stand ein kleines Mädchen mit dunkelroten Zöpfen und neugierigen Augen. Und hinter ihr entdeckte ich Jocelyn, die auf mich zukam, die Hände voller Farbe. Sie sah noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte, wie sie mir seit unserer Kindheit vertraut war …
Den Rest kennst du.
22
Renwicks Ruine
Nachdem Luke geendet hatte, blieb es lange Zeit totenstill in der Zelle; nur das leise Tropfen von Wasser an einer der Steinmauern war zu hören. Nach einer Weile durchbrach Luke die Stille:
»Sag doch was, Clary.«
»Was soll ich denn sagen?«
Er seufzte. »Vielleicht, dass du verstehst, was ich dir erzählt habe?«
Clary hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr ganzes Leben auf einer hauchdünnen Eisscholle aufgebaut gewesen – und jetzt begann dieses Eis zu brechen und drohte, sie mit sich in das darunterliegende eisige Wasser zu reißen. Hinab in die dunkle Tiefe, dachte sie, in der all die Geheimnisse ihrer Mutter lagen, die vergessenen Überreste eines schiffbrüchigen Lebens.
Sie schaute Luke an. Er wirkte plötzlich verschwommen und unscharf, so als ob sie ihn durch eine Milchglasscheibe sähe. »Mein Vater«, setzte sie an, »dieses Bild, das meine Mutter immer auf dem Kaminsims stehen hatte …« »Das war nicht dein Vater«, erklärte Luke.
»Hat es ihn denn je gegeben?«, fragte Clary mit zunehmend zorniger Stimme. »Gab es jemals einen John Clark oder hat meine Mutter ihn auch erfunden?«
»John Clark hat tatsächlich existiert. Aber er war nicht dein Vater. Er war der Sohn eurer Nachbarn, damals im East Village. Er kam bei einem Autounfall ums Leben, so wie deine Mutter es dir erzählt hat, aber sie haben einander nie kennengelernt. Sie besaß sein Foto, weil die Nachbarn sie beauftragt hatten, ein Porträt von ihm in seiner Army-Uniform zu malen. Nachdem sie das Bild gemalt hatte, behielt sie das Foto und behauptete, dass der Mann darauf dein Vater gewesen sei. Ich schätze, für sie war es so einfacher. Denn wenn sie dir erzählt hätte, er habe sich aus dem Staub gemacht oder sei verschwunden, hättest du irgendwann nach ihm suchen wollen. Und ein Toter …«
»Kann sich nicht gegen Lügen wehren«, beendete Clary mit bitterer Stimme seinen Satz. »Und sie fand es in Ordnung, mich all die Jahre glauben zu lassen, mein Vater sei tot? Und dabei ist mein richtiger Vater …«
Luke sagte nichts, ließ sie das Ende des Satzes selbst finden, das Undenkbare selbst denken.
»Valentin.« Ihre Stimme zitterte. »Das willst du mir doch damit sagen, richtig? Dass Valentin mein Vater war … ist?« Luke nickte; nur seine ineinander verschränkten Hände verrieten seine Anspannung. »Ja.«
»Oh mein Gott.« Clary sprang auf und lief durch die Zelle.
»Das ist nicht wahr. Das ist einfach nicht wahr.«
»Clary, bitte reg dich nicht so auf …«
»Reg dich nicht so auf? Du erzählst mir gerade, dass mein richtiger Vater im Grunde der Herrscher alles Bösen ist, und ich soll mich nicht aufregen?«
»Er war nicht immer böse«, erwiderte Luke und klang dabei fast schon entschuldigend.
»Oh, da bin ich aber anderer Meinung. In meinen Augen ist er nie was anderes gewesen. Der ganze Blödsinn über die Reinhaltung der Rasse und die Bedeutung des unverdorbenen Blutes – das klingt doch wie einer dieser widerlichen Faschisten. Und ihr beide seid auch noch voll drauf reinge fallen.«
»Ich bin nicht derjenige, der noch vor ein paar Minuten etwas von ›miesen‹ Schattenwesen erzählt hat«, sagte Luke leise. »Oder davon, dass man ihnen nicht trauen kann.« »Das ist nicht dasselbe!« Clary konnte die Tränen in ihrer Stimme hören. »Ich hatte einen Bruder«, fuhr sie stockend fort. »Und Großeltern. Sind sie tot?«
Luke nickte und blickte hinunter auf seine großen Hände, die nun geöffnet auf seinen Knien lagen. »Ja.«
»Jonathan«, sagte sie leise. »Um wie viel wäre er älter als ich? Ein Jahr?«
Luke schwieg.
»Ich habe mir immer einen Bruder gewünscht«, murmelte sie.
»Nicht«, sagte er unglücklich. »Quäl dich nicht. Du begreifst doch wohl, warum deine Mutter dies alles von dir ferngehalten hat, oder? Was hätte es für einen Nutzen gehabt, dich wissen zu lassen, was du schon vor deiner Geburt
verloren hattest?«
»Dieses Kästchen«, begann Clary, deren Gedanken sich nun überschlugen, »mit den Initialen J. C. darauf. Jonathan Christopher. Deshalb hat sie immer geweint, wenn sie es betrachtet hat. Das war seine Haarlocke – die meines Bruders, nicht meines Vaters.«
»Ja.«
»Und als du sagtest ›Clary ist nicht Jonathan‹, hast du meinen Bruder gemeint. Deshalb war Mom auch immer so überfürsorglich – weil sie bereits ein Kind verloren hatte.« Ehe Luke antworten konnte, öffnete sich die Zellentür mit einem metallischen Klang und Gretel betrat den Raum. Das »Verbandszeug«, unter dem Clary sich eine Hartplastik-Box mit aufgedrucktem rotem Kreuz vorgestellt hatte, erwies sich als ein großes Holztablett mit aufgerollten Bandagen und dampfenden Schüsseln voll undefinierbaren Flüssigkeiten und Kräutern, die ein intensives zitronenartiges Aroma verströmten. Gretel stellte das Tablett neben dem Bett ab und bedeutete Clary, sich aufzusetzen, was dieser mit einiger Mühe auch gelang.
»Braves Mädchen«, meinte die Wolfsfrau, tunkte etwas Mull in eine der Schüsseln und tupfte damit sanft das getrocknete Blut von Clarys Gesicht. »Wie hast du denn das geschafft?«, fragte sie missbilligend, als ob sie annähme, Clary sei sich mit einer Käsereibe durchs Gesicht gefahren. »Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Luke, der die Prozedur mit verschränkten Armen beobachtete.