»Okay, das genügt«, sagte Clary mit klopfendem Herzen.
»Das muss es sein. Roosevelt Island? Lebt da denn überhaupt noch jemand?«
»Nicht alle von uns sind mit einem goldenen Löffel im Mund geboren, Prinzesschen«, sagte Simon mit gespieltem Sarkasmus. »Wie auch immer – braucht ihr mich noch mal als Fahrer oder für was anderes?«
»Nein! Alles okay hier, wir brauchen nichts. Ich musste nur ein paar Informationen haben.«
»Wie du meinst.« Simon klang ein wenig gekränkt, dachte Clary. Doch dann sagte sie sich, dass es so besser sei – er saß heil und gesund zu Hause und darauf kam es letztlich an. Sie beendete das Telefonat und wandte sich an Luke. »Am Südende von Roosevelt Island gibt es ein verlassenes Hospital namens Renwicks. Meiner Meinung nach steckt Valentin dort.«
Luke schob seine Brille wieder die Nase hinauf. »Blackwell’s Island. Natürlich.«
»Wieso Blackwell’s Island? Ich sagte …«
Er schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. »So hat man Roosevelt Island früher genannt – Blackwell’s. Es gehörte einer alten Schattenjäger-Familie. Ich hätte daran denken müssen.« Er drehte sich zu Gretel um. »Hol Alaric. Wir brauchen das ganze Rudel hier, und zwar so schnell wie möglich.« Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln, das Clary an jenes kalte Grinsen erinnerte, das Jace’ Lippen kurz vor einem Kampf umspielte. »Sag ihnen, sie sollen sich auf eine Schlacht vorbereiten.«
Ihr Weg hinauf zur Straße führte sie durch ein weitläufiges Labyrinth aus Zellen und Korridoren, die sich letztlich zu einem Raum öffneten, der einst der Eingangsbereich einer Polizeiwache gewesen war. Das Gebäude war inzwischen verlassen; in der schräg einfallenden Nachmittagssonne warfen die leeren Tische und die Umkleideschränke mit ihren Vorhängeschlössern und Termitenlöchern eigenartige Schatten. Auf den gesprungenen Bodenfliesen las Clary das Motto der New Yorker Polizei: Fidelis ad Mortem.
»Treu bis in den Tod«, übersetzte Luke, der ihrem Blick gefolgt war.
»Lass mich raten«, meinte Clary. »Im Inneren ist es eine verlassene Polizeiwache, aber von außen sehen die Irdischen nur ein abbruchreifes Mietshaus oder ein leeres Baugrundstück oder …«
»Eigentlich sieht es von außen aus wie ein chinesisches Restaurant«, erklärte Luke. »Alle Gerichte nur zum Mitnehmen, kein Restaurantbetrieb.«
»Ein chinesisches Restaurant?«, wiederholte Clary ungläubig.
Luke zuckte die Achseln. »Tja, wir sind nun mal in Chinatown. Das hier war einst die Wache des Zweiten Bezirks.«
»Die Leute finden es wahrscheinlich ziemlich eigenartig, dass es keine Telefonnummer für Essensbestellungen gibt.«
»Doch, die gibt es«, sagte Luke grinsend. »Wir gehen allerdings nicht sehr oft ans Telefon. Nur manchmal, wenn sie sich langweilen, liefern ein paar von den Wölflingen Schweinefleisch süßsauer aus.«
»Du machst Witze.«
»Ganz und gar nicht. Außerdem können wir die Trinkgelder gut gebrauchen.« Damit öffnete er die Vordertür und strahlendes Sonnenlicht erfüllte den Raum.
Clary war sich immer noch nicht sicher, ob er sie auf den Arm genommen hatte, und folgte Luke über die Baxter Street zu seinem Auto. Das Innere des Pick-ups wirkte auf sie beruhigend vertraut – der schwache Geruch nach Holzspänen, Altpapier und Seife, die weggeworfenen Kaugummipapierchen und leeren Kaffeebecher auf dem Boden und die von der Sonne ausgebleichten Würfel aus goldfarbenem Plüsch, die sie ihm mit zehn Jahren geschenkt hatte, weil sie genauso aussahen wie die goldenen Würfel am Rückspiegel des Millennium Falcon. Clary schwang sich auf den Beifahrersitz und ließ sich mit einem Seufzer gegen die Kopfstütze sinken. Sie war erschöpfter, als sie es sich selbst eingestanden hatte. Luke schloss die Tür hinter ihr. »Schön hierbleiben.« Sie schaute ihm nach, als er zu Gretel und Alaric hinüberging, die geduldig auf den Stufen der alten Polizeiwache warteten. Dann vertrieb sie sich die Zeit damit, ihren Blick absichtlich scharf und wieder unscharf werden zu lassen, wodurch der Zauberglanz abwechselnd sichtbar und unsichtbar wurde. Das Gebäude auf der anderen Straßenseite, das zunächst wie eine alte Polizeiwache ausgesehen hatte, verwandelte sich auf diese Weise in eine heruntergekommene Ladenfront mit einem gelben Vordach, auf dem »ChinaRestaurant Jade Wolf« stand.
Luke unterhielt sich gestenreich mit seinem Ersten und Zweiten Offizier und deutete irgendwann die Straße hinunter. Sein Pick-up war das erste Fahrzeug in einer Reihe von Transportern, Motorrädern, Jeeps und sogar einem schrottreif aussehenden alten Schulbus. Die Fahrzeugkolonne erstreckte sich in einer Linie den ganzen Häuserblock entlang und um die nächste Straßenecke herum – ein ganzer Konvoi von Werwölfen. Clary fragte sich, wie sie in so kurzer Zeit so viele fahrbare Untersätze zusammengeraubt, erbettelt oder organisiert hatten. Einen Vorteil hatte das Ganze jedenfalls: Zumindest mussten sie nicht alle mit der Luftseilbahn nach Roosevelt Island reisen.
Luke bekam von Gretel eine weiße Papiertüte gereicht, nickte kurz und kam dann zum Pick-up zurückgelaufen. Während er seinen schlaksigen Körper hinter das Steuer zwängte, gab er Clary die Tüte. »Hier, dafür bist du zuständig.«
Clary musterte die Tüte misstrauisch. »Was ist da drin? Waffen?«
Luke schüttelte sich vor lautlosem Lachen. »Eigentlich sind es Wan-Tans«, sagte er und lenkte den Pick-up in den Verkehr. »Und Kaffee.«
Während sie nach Norden rollten, öffnete Clary mit wild knurrendem Magen die Tüte. Sie riss eine der Teigtaschen auf, genoss den pikant-salzigen Geschmack des Schweinefleischs und machte sich mit Appetit über den hellen Teig her. Anschließend spülte sie das Ganze mit einem Schluck supersüßen Kaffees hinunter und bot Luke eine zweite Teigtasche an. »Auch eine?«
»Klar.« Es war fast wie in alten Zeiten, dachte sie, während sie durch die Canal Street rollten. Früher hatten sie hier immer große Tüten mit Apfeltaschen bei der Golden Carriage Bakery geholt – und sie schon zur Hälfte verputzt, noch bevor sie auf dem Rückweg die Manhattan Bridge erreichten.
»Erzähl mir was über diesen Jace«, sagte Luke.
Clary hätte sich fast an einer Teigtasche verschluckt. Schnell griff sie nach dem Kaffee und ertränkte ihren Hustenanfall in der heißen Flüssigkeit. »Was soll mit ihm sein?«
»Hast du irgendeine Ahnung, was Valentin von ihm wollen könnte?«
»Nein.«
Luke blinzelte im Licht der untergehenden Sonne. »Ich dachte, Jace wäre eines der Lightwood-Kinder?«
»Nein.« Clary biss in ihre dritte Teigtasche. »Sein Nachname ist Wayland. Sein Vater war …«
»Michael Wayland?«
Sie nickte. »Und als Jace zehn Jahre alt war, hat Valentin ihn getötet. Michael, meine ich.«
»So was wäre ihm durchaus zuzutrauen«, sagte Luke. Sein Tonfall blieb neutral, doch irgendetwas in seiner Stimme veranlasste Clary, ihm einen Seitenblick zuzuwerfen. Glaubte er ihr etwa nicht?
»Jace hat mit angesehen, wie er starb«, fügte sie hinzu, um ihrer Behauptung Nachdruck zu verleihen.
»Das ist ja schrecklich«, sagte Luke. »Armer Junge.«
Sie rollten nun über die Brücke an der 59. Straße. Clary schaute hinunter und sah den Fluss in der untergehenden Sonne rotgolden schimmern. Von hier aus konnte man schon die Südspitze von Roosevelt Island erkennen, wenn auch erst als kleinen Fleck weit oben im Norden. »Er ist darüber hinweggekommen«, sagte sie. »Die Lightwoods haben sich gut um ihn gekümmert.«