»Das kann ich mir vorstellen. Sie waren immer eng mit Michael befreundet«, bemerkte Luke und wechselte in die linke Spur. Im Seitenspiegel sah Clary, wie die Karawane der ihnen folgenden Fahrzeuge ebenfalls ihre Fahrtrichtung anpasste. »Sie haben sich bestimmt gern seines Sohnes angenommen.«
»Was passiert eigentlich, wenn der Mond aufgeht?«, fragte sie. »Werdet ihr dann alle plötzlich zu Wölfen?«
Lukes Mundwinkel zuckten. »Nicht alle. Nur die Jungen, diejenigen, die sich vor Kurzem zum ersten Mal verändert haben, können ihre Transformation nicht kontrollieren. Aber die meisten von uns haben das im Laufe der Jahre gelernt. Nur der Vollmond kann meine Transformation heute noch erzwingen.«
»Also wenn der Mond nur halb voll ist, fühlst du dich auch nur wie ein Halbwolf?«, fragte Clary.
»So könnte man das sagen.«
»Na ja, du kannst ja immer noch deinen Kopf aus dem Autofenster hängen und heulen, wenn dir danach ist.« Luke lachte. »Ich bin ein Werwolf, kein Golden Retriever.«
»Wie lange bist du schon der Anführer dieses Rudels?«, wechselte Clary plötzlich das Thema.
Luke zögerte. »Etwa eine Woche.«
Clary wandte sich ihm ruckartig zu. »Eine Woche?«
Er seufzte. »Ich wusste, dass Valentin deine Mutter entführt hatte«, sagte er tonlos. »Und ich wusste, dass ich allein kaum eine Chance gegen ihn haben würde und dass ich vom Rat keine Hilfe erwarten konnte. Ich brauchte etwa einen Tag, um das nächste große Werwolfrudel in der Stadt zu finden.«
»Du hast den Rudelführer umgebracht und seinen Platz eingenommen?«
»Es war der schnellste Weg, um in kurzer Zeit an eine große Zahl von Verbündeten zu kommen«, erwiderte Luke, ohne jedes Bedauern, aber auch ohne Stolz in der Stimme. Clary erinnerte sich, wie sie ihn heimlich in seinem Haus beobachtet hatte, wie ihr die tiefen Kratzer auf seinen Händen und in seinem Gesicht aufgefallen waren. »Ich hatte es vorher schon einmal getan und ich war mir ziemlich sicher, dass ich es wieder tun könnte.« Er zuckte die Achseln. »Deine Mutter war verschwunden und ich wusste, dass ich dich dazu gebracht hatte, mich zu hassen. Ich hatte nichts mehr zu verlieren.«
Clary stemmte die Sohlen ihrer grünen Turnschuhe gegen das Armaturenbrett. Durch die gesprungene Windschutzscheibe, über ihre Schuhspitzen hinweg, konnte sie erkennen, wie der Mond über der Brücke aufging. »Tja«, sagte sie. »Das ist jetzt anders.«
Das Hospital am Südende von Roosevelt Island wurde von Flutlicht angestrahlt, was seine gespenstischen Konturen scharf gegen den dunklen Fluss und die hell erleuchtete Silhouette Manhattans hervortreten ließ. Luke und Clary verstummten, als der Pick-up auf die winzige Insel rollte und aus der gepflasterten Straße ein Schotterweg wurde, der schließlich als gestampfter Lehmpfad endete. Der Weg verlief parallel zu einem hohen Maschendrahtzaun, dessen Krone dick mit Stacheldraht umwickelt war.
Als der Untergrund zu uneben wurde, um noch länger weiterzufahren, brachte Luke den Pick-up zum Stehen und schaltete das Licht aus. Dann schaute er Clary an. »Würdest du hier auf mich warten, wenn ich dich darum bitte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Im Wagen muss es nicht unbedingt sicherer sein. Wer weiß, wie Valentin seine Stellung bewachen lässt?«
Luke lachte leise. » Stellung. Hör sich das einer an.« Er schwang sich aus dem Pick-up und ging dann auf ihre Seite hinüber, um ihr vom Beifahrersitz zu helfen. Sie hätte zwar auch selbst aus dem Wagen springen können, aber es war schön, dass er ihr half – so wie er es getan hatte, als sie noch zu klein gewesen war, um allein sicher auszusteigen.
Als ihre Füße den trockenen Lehmboden berührten, stiegen kleine Staubwolken in die Höhe. Die Autos, die ihnen gefolgt waren, schlossen nun eins nach dem anderen so zu ihnen auf, dass sie eine Art Kreis um Lukes Pick-up bildeten. Im Licht ihrer Scheinwerfer blitzte der Maschendrahtzaun silberweiß. Hinter dem Zaum ragte das Hospital auf – eine Ruine, deren verfallener Zustand im grellen Flutlicht unbarmherzig deutlich wurde: Mauerreste ohne Dach ragten aus dem unebenen Boden hervor wie abgebrochene Zähne und die steinernen Zinnen waren von einem dichten Efeuteppich überwuchert. »Es ist ein Trümmerhaufen«, hörte Clary sich selbst leise und leicht beklommen sagen. »Keine Ahnung, wie Valentin sich hier verstecken könnte.«
Lukes Augen folgten ihrem Blick in Richtung Hospital. »Es ist ein starker Zauberglanz«, erklärte er. »Versuch, an den Lichtern vorbeizuschauen.« Alaric kam über den Pfad auf sie zu; seine Jeansjacke öffnete sich in der leichten Brise, sodass seine vernarbte Brust zum Vorschein kam. Die Werwölfe, die ihm folgen, sehen aus wie ganz normale Menschen, dachte Clary. Wenn ihr die Gruppe unter anderen Umständen in einer Menge aufgefallen wäre, hätte sie wahrscheinlich angenommen, dass sie sich von irgendwoher kannten. Sie ähnelten einander auf eine Weise, die nicht auf körperlichen Merkmalen beruhte es lag mehr in ihren unverblümten Blicken, in ihrer energischen Ausstrahlung. Sie waren sonnengebräunter, schlanker und sehniger als der durchschnittliche Stadtmensch, so wie eine Gruppe von Farmern oder eine Motorradgang. Auf jeden Fall sahen sie überhaupt nicht wie Monster aus.
Sie versammelten sich bei Lukes Pick-up zu einer kurzen Lagebesprechung, fast wie ein Footballteam vor dem Anpfiff. Clary, die sich wie eine Außenseiterin fühlte, drehte sich um und betrachtete erneut das Hospital. Dieses Mal versuchte sie, an den Lichtern vorbei oder durch sie hindurchzuschauen, so wie sie manchmal durch eine dünne Deckschicht von Farbe hindurchschaute, um das darunterliegende Gemälde zu sehen. Wie schon zuvor musste sie sich nur vorstellen, ein solches Bild zu zeichnen – die Lichter schienen zu verschwinden und plötzlich schaute sie über eine von Eichen gesäumte Rasenfläche auf ein prunkvolles neugotisches Bauwerk, das zwischen den Bäumen emporragte wie das Bollwerk eines gewaltigen Schiffes. Die Fenster in den unteren Geschossen waren dunkel, ihre Blenden geschlossen, aber aus den spitz zulaufenden Fensterbögen im dritten Stock fiel Licht, als handle es sich um Feuer auf den Gipfeln einer weit entfernten Gebirgskette. Eine massive steinerne Veranda verbarg die Eingangstür des Gebäudes.
»Kannst du es jetzt sehen?«, fragte Luke, der sich ihr lautlos von hinten genähert hatte, auf den leisen Sohlen … eines Wolfs.
»Sieht eher wie eine Burg als ein Krankenhaus aus«, sagte sie, während sie das Gebäude unverwandt musterte.
Luke packte sie bei den Schultern und drehte sie mit dem Gesicht zu sich. »Hör mir zu, Clary.« Sein Griff war so fest, dass es schmerzte. »Bleib immer in meiner Nähe. Beweg dich, wenn ich mich bewege. Halt dich zur Not an meinem Hemd fest. Die anderen werden einen Ring um uns bilden und uns schützen, doch wenn du außerhalb dieses Rings gerätst, werden sie nichts für dich tun können. Sie werden uns jetzt langsam zur Tür bringen.« Er ließ ihre Schultern los, und als er sich bewegte, sah sie unter seiner Jacke etwas metallisch aufblitzen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er eine Waffe trug, doch dann erinnerte sie sich daran, was Simon über den Inhalt von Lukes alter grüner Reisetasche gesagt hatte. »Versprichst du mir zu tun, was ich sage?«
»Versprochen.«
Der Zaun war echt und nicht durch den Zauberglanz erschaffen. Alaric, der die Führung übernommen hatte, rüttelte prüfend daran und hob dann langsam eine Hand. Lange Klauen wuchsen unter seinen Fingernägeln hervor, mit denen er auf den Maschendrahtzaun einhieb und das Metall wie Butter zerschnitt. Die Maschen fielen zu einem großen Haufen zusammen.
»Los.« Er winkte die anderen durch das Loch im Zaun. Sie strömten vorwärts wie ein Mann, in einer geschlossenen, perfekt koordinierten Bewegung. Luke packte Clary am Arm, schob sie vor sich her und duckte sich, um ihr durch den Zaun zu folgen. Hinter dem Zaun gruppierten sie sich neu und spähten in Richtung des ehemaligen Pocken-Krankenhauses, wo sich dunkle Schatten auf der Veranda gesammelt hatten und sich nun langsam die Vortreppe hinunterbewegten.