Alaric hob den Kopf und schnüffelte prüfend gegen den Wind. »Der Gestank des Todes liegt in der Luft.«
»Forsaken«, stieß Luke zischend hervor.
Er schob Clary hinter sich, die auf dem unebenen Boden ins Stolpern geriet. Die Mitglieder des Rudels begannen, sich um Luke und sie zu scharen. Während sie sich dem Haus näherten, ließen sie sich auf alle viere fallen, Lippen wichen hinter hervortretenden Fängen zurück, Gliedmaßen verwandelten sich in lange, pelzige Extremitäten und dichtes Fell überwucherte die Kleidung. Irgendwo in Clarys Hinterkopf schrie eine winzige Stimme instinktiv: »Wölfe! Lauf weg!« Aber sie kämpfte dagegen an und blieb, wo sie war, obwohl sie spürte, wie ihre Nackenhaare sich aufrichteten und ihre Hände zu zittern begannen.
Das Rudel umringte sie, die Schnauzen nach außen gerichtet. Auf beiden Seiten flankierten weitere Wölfe den Kreis; es war, als ob Luke und sie sich im Mittelpunkt eines Sterns befänden. In dieser Formation bewegten sie sich langsam auf die Eingangstür des Hospitals zu. Clary, die immer noch hinter Luke ging, sah nicht einmal, wie der erste Forsaken angriff. Sie hörte einen Wolf unter Schmerzen aufheulen. Dann stieg das Heulen einen Moment lang an, verwandelte sich in ein Knurren, gefolgt von einem dumpfen Schlag, einem gurgelnden Aufschrei und einem Geräusch wie reißendes Papier …
Einen kurzen Moment fragte Clary sich, ob Forsaken essbar waren.
Sie warf Luke einen Blick zu. Sein Gesicht war angespannt. Jetzt sah Clary sie auch, am äußeren Rand des Rings der Werwölfe, beschienen vom grellen Flutlicht und dem sanften Schimmer Manhattans, der aus der Ferne zu ihnen herüberdrang: Dutzende von Forsaken, mit leichenblasser Haut, über und über gebrandmarkt mit Runen, die an ihnen wie Verletzungen aussahen. Mit leeren Augen stürzten sie sich auf die Wölfe, die sich ihnen frontal entgegenstellten, mit ausgefahrenen Klauen und gebleckten Zähnen. Sie sah einen der Forsaken – eine Frau – mit rudernden Armen und aufgeschlitzter Kehle rückwärtsstolpern. Ein anderer hieb mit einem Arm auf einen Wolf ein, während sein anderer Arm einen guten Meter entfernt auf dem Boden lag; Blut strömte pulsierend aus dem Stumpf. Schwarzes Blut, zäh und trübe wie Sumpfwasser, floss in Strömen und machte das Gras so rutschig, dass Clary fast gestolpert wäre. Luke konnte sie gerade noch festhalten. »Hiergeblieben.«
Ich bleibe doch hier, wollte sie ihm zurufen, doch sie brachte keinen Ton hervor. Die Wölfe bewegten sich immer noch – quälend langsam – über den Rasen auf das Hospital zu. Lukes Hand umklammerte ihren Arm wie eine Stahlfalle. Clary hätte nicht sagen können, wer gewann – und ob überhaupt jemand gewann. Die Wölfe waren schneller und größer, doch die Forsaken attackierten sie mit grausiger Unerbittlichkeit und waren überraschend schwer zu töten. Sie sah, wie ein riesiger, grau melierter Wolf, den sie als Alaric erkannte, einen Forsaken niederstreckte, indem er ihm die Beine wegschlug und ihm mit einem Sprung an die Kehle ging. Doch selbst mit herausgerissenem Kehlkopf bewegte sich die Kreatur weiter und ihr Axtschlag hinterließ eine tiefe rote Schnittwunde in Alarics glänzendem Fell.
Derart abgelenkt, bemerkte Clary den Forsaken, der den schützenden Ring um sie durchbrochen hatte, erst, als er drohend über ihr aufragte – es kam ihr vor, als wäre er vor ihren Füßen aus dem Boden geschossen. Mit weißen Augen und verfilztem Haar hob er ein bluttriefendes Messer.
Sie schrie auf. Luke wirbelte herum, drängte sie zur Seite, packte die Kreatur beim Handgelenk und drehte es herum. Sie hörte Knochen brechen und das Messer fiel ins Gras. Die Hand des Forsaken baumelte leblos an seinem Körper herab, aber er kam weiter auf sie zu, ohne ein Anzeichen von Schmerz. Luke rief mit rauer Stimme nach Alaric. Clary versuchte, den Dolch an ihrem Gürtel zu erreichen, doch Lukes Griff um ihren Arm war zu fest. Ehe sie ihn anschreien konnte, sie loszulassen, warf sich eine schlanke Gestalt wie ein silberner Blitz zwischen sie und den Angreifer. Es war Gretel. Sie landete mit ihren Vorderpfoten auf der Brust des Forsaken und warf ihn zu Boden. Ein wütendes Heulen stieg aus ihrer Kehle auf, doch der Forsaken war stärker; er schleuderte sie beiseite wie eine Stoffpuppe und rollte sich wieder auf die Füße.
Irgendetwas hob Clary hoch. Sie protestierte lautstark, aber es war nur Alaric, halb in menschlicher, halb in Werwolfgestalt, die Hände mit scharfen Klauen versehen. Dennoch war die Bewegung, mit der er sie in seine Arme nahm, sanft.
»Schaff sie hier raus! Bring sie zur Tür!«, rief Luke und deutete mit dem Arm die Richtung an.
»Luke!« Clary wand sich in Alarics Griff hin und her.
»Nicht hinschauen«, sagte Alaric knurrend.
Aber sie konnte nicht anders – und sah, wie Luke mit gezückter Klinge in der Hand Gretel beistehen wollte. Doch er kam zu spät: Der Forsaken packte sein Messer, das ins blutige Gras gefallen war, und jagte es Gretel in den Rücken, wieder und wieder, während sie mit den Klauen um sich schlug und kämpfte und immer schwächer wurde, bis das Licht in ihren silbrigen Augen schließlich erstarb. Mit einem Schrei schwang Luke seine Klinge in Richtung der Kehle des Forsaken …
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht hinsehen«, knurrte Alaric und drehte sich so, dass Clarys Sicht von seinem gewaltigen Rumpf versperrt wurde. Inzwischen hetzten sie die Stufen hinauf, wobei Alarics Klauen über den Granit kratzten wie Nägel über eine Schultafel.
»Alaric«, sagte Clary.
»Ja?«
»Tut mir leid, dass ich ein Messer nach dir geworfen habe.«
»Das muss es nicht. Wie gesagt, es war ein guter Wurf.«
Sie versuchte, an ihm vorbeizuschauen. »Wo ist Luke?«
»Ich bin hier«, sagte Luke und Alaric drehte sich um. Luke kam die Stufen hinauf und schob sein Schwert zurück in die Scheide, die er unter der Jacke an seinem Körper befestigt hatte. Die Klinge war schwarz und klebrig.
Auf der Veranda ließ Alaric Clary aus seinen Armen gleiten. Als sie auf die Füße kam, drehte sie sich um, doch sie konnte weder Gretel sehen noch den Forsaken, der sie getötet hatte, nur ein Meer aus hin und her wogenden Körpern und blitzendem Metall. Ihr Gesicht war feucht. Sie führte eine Hand an ihre Wange, um zu sehen, ob sie blutete, doch dann wurde ihr klar, dass sie weinte. Luke sah sie mit einem seltsamen Blick an. »Sie war doch nur ein Schattenwesen«, sagte er.
Clarys Augen brannten. »Sag so was nicht.«
»Verstehe.« Er drehte sich zu Alaric um. »Danke, dass du auf sie aufgepasst hast. Während wir reingehen …«
»Ich komme mit euch«, unterbrach Alaric ihn. Inzwischen hatte er sich fast vollständig in einen Menschen zurückverwandelt, doch seine Augen waren immer noch die eines Wolfs und zwischen den zurückgezogenen Lippen schauten Zähne hervor, so lang wie Zahnstocher. Er dehnte seine Finger, an denen Clary lange Nägel sah.
Luke musterte ihn besorgt. »Nein, Alaric.«
Alaric knurrte mit tonloser Stimme: »Du bist der Rudelführer, und nachdem Gretel tot ist, bin ich dein Erster Offizier. Es wäre nicht richtig, dich allein gehen zu lassen.«
»Ich …« Luke schaute Clary an und sah dann wieder auf das Schlachtfeld vor dem Hospital. »Ich brauche dich hier draußen, Alaric. Tut mir leid, aber das ist ein Befehl.«
In Alarics Augen blitzte Verärgerung auf, doch dann trat er beiseite. Die schwere Eingangstür des Hospitals war mit prunkvollen Holzschnitzereien versehen – Muster, die Clary bekannt vorkamen, wie die Rosen von Idris, ineinander verschlungene Runen, strahlende Sonnen. Als Luke dagegentrat, hörte man das Krachen eines aufbrechenden Riegels. Er stieß die Tür auf und schob Clary hindurch. »Rein mit dir.«
Sie stolperte an ihm vorbei, drehte sich auf der Schwelle noch einmal um. Alaric beobachtete sie mit glühenden Wolfsaugen. Hinter ihm war der Rasen übersät mit Leichen, der Boden durchtränkt von schwarzem und rotem Blut. Als die Tür hinter ihr zuschlug und ihr die Sicht versperrte, war sie dankbar.