Clary und Luke standen nun im Dämmerlicht des steinernen Eingangsbereichs, der von einer einzelnen Fackel beleuchtet wurde. Nach dem Dröhnen des Schlachtengetümmels umhüllte die Stille sie wie ein dämpfender Umhang. Clary schnappte nach Luft – Luft, die nicht schwül und feucht und vom Geruch nach Blut erfüllt war.
»Alles in Ordnung?« Luke hielt sie an der Schulter fest.
Sie wischte sich die Tränen von den Wangen. »Du hättest das eben nicht sagen sollen. Das über Gretel – dass sie nur ein Schattenwesen war. So was würde ich nie denken.«
»Freut mich zu hören.« Er griff nach der Fackel in der Metallhalterung. »Ich hatte schon befürchtet, die Lightwoods hätten dich in eine Kopie ihrer selbst verwandelt.«
»Nein, das ist ihnen nicht gelungen.«
Die Fackel ließ sich nicht aus dem Wandhalter nehmen. Luke runzelte die Stirn. Clary wühlte in ihrer Tasche, brachte den glatten Elbenlichtstein zum Vorschein, den Jace ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, und hielt ihn hoch. Lichtstrahlen brachen zwischen ihren Fingern hervor, als hätte sie eine magische Nussschale geknackt und die darin eingeschlossene Lichtquelle befreit.
»Elbenlicht?«, fragte Luke und wandte sich von der Fackel ab.
»Jace hat mir den Stein geschenkt.« Clary spürte, dass er in ihrer Hand pulsierte wie das Herz eines winzigen Vogels. Sie fragte sich, wo Jace sich in diesem Gemäuer aus grauen Steinen wohl befinden mochte, ob er Angst hatte und sich fragte, ob er sie jemals wiedersehen würde.
»Lange her, dass ich im Schein von Elbenlicht gekämpft habe«, meinte Luke. Dann stieg er die ersten Stufen der Treppe hinauf, die unter seinen Stiefeln laut knarrten. »Mir nach.«
Das flackernde Elbenlicht warf seine langen, seltsam verzerrten Schatten an die glatten Granitmauern. Als sie einen steinernen Absatz erreichten, an dem die Treppe in einen Bogen mündete, blieben sie stehen. Über ihnen brannte Licht. »Hat das Hospital so ausgehen … damals, vor über hundert Jahren?«, flüsterte Clary.
»Die Strukturen des alten Gebäudes, das Renwick errichten ließ, sind sicher noch vorhanden – obwohl ich mir vorstellen könnte, dass Valentin, Blackwell und die anderen das Haus nach ihrem Geschmack umbauen ließen«, erwiderte Luke. »Sieh mal.« Er kratzte mit dem Stiefel über den Boden. Clary blickte nach unten und entdeckte eine in den Granit gemeißelte Rune – ein Kreis mit der lateinischen Inschrift »In Hoc Signo Vinces«.
»Was heißt das?«, fragte sie.
»Der Satz bedeutet: ›In diesem Zeichen wirst du siegen.‹ Es war das Motto des Kreises.«
Sie schaute hoch, in Richtung der Lichter über ihnen. »Dann sind sie also hier.«
»Oh ja, sie sind hier«, bestätigte Luke und aus seiner rauen Stimme klang angespannte Erwartung. »Komm.«
Sie stiegen die Wendeltreppe weiter hinauf, immer dem Licht entgegen, bis sich ein langer, schmaler Korridor vor ihnen öffnete. Entlang der Wände zuckten die Flammen rußender Fackeln. Clary schloss die Hand um den Elbenstein, dessen Licht wie das eines verlöschenden Sterns aufflackerte und verschwand.
Auf beiden Seiten des Korridors befanden sich zahlreiche schwere, geschlossene Türen. Clary fragte sich, ob dahinter wohl Krankensäle gelegen hatten, als das Gebäude noch als Hospital gedient hatte, oder ob die Türen zu Privatgemächern führten. Als sie weitergingen, entdeckte Clary Fußspuren auf dem Boden – feuchte, schlammige Stiefelabdrücke von der matschigen Wiese vor dem Haus. Jemand musste kurz vor ihnen den Korridor entlanggegangen sein.
Die erste Tür, die sie zu öffnen versuchten, gab sofort nach und schwang auf, doch der Raum dahinter war leer: Die polierten Holzdielen und die steinernen Mauern glänzten gespenstisch im Schein des Mondes, der durch das hohe Fenster fiel. Von draußen drang gedämpft das Dröhnen des Kampfgetümmels herein – rhythmisch wie das Rauschen des Meeres. Im zweiten Zimmer, in das sie einen Blick warfen, lagerten unzählige Waffen: Schwerter, Keulen und Äxte. Bleiches Mondlicht ergoss sich wie silbriges Wasser über die Reihen von nacktem, kaltem Stahl. Luke stieß einen leisen Pfiff aus. »Das nenn ich mal eine Waffensammlung.«
»Glaubst du, das sind Valentins persönliche Kriegswerkzeuge?«
»Das ist eher unwahrscheinlich. Ich vermute, sie sind für seine Armee bestimmt.« Luke wandte sich ab und ging weiter.
Der dritte Raum entpuppte sich als ein Schlafzimmer. Die Vorhänge des Himmelbetts glänzten dunkelblau, der Perserteppich auf dem Boden zeigte ein Muster aus blauen, schwarzen und grauen Tönen und sämtliche Möbel waren weiß gestrichen – wie das Mobiliar eines Kinderzimmers. Über allem schwebte eine dünne, gespenstische Staubschicht, die im Mondlicht schwach schimmerte.
In dem Himmelbett lag Jocelyn.
Sie schlief tief und fest auf dem Rücken, eine Hand achtlos über die Brust gelegt. Ihre langen Haare waren über das Kissen ausgebreitet und sie trug ein weißes Nachthemd, das Clary noch nie gesehen hatte. Ihr Atem ging ruhig und regelmäßig. Im bleichen Mondlicht, das auf das Bett fiel, konnte Clary erkennen, dass die Lider ihrer Mutter wie im Traum zuckten.
Mit einem unterdrückten Schrei wollte Clary sich auf das Bett stürzen, doch Lukes ausgestreckter Arm hielt sie zurück, versperrte ihr wie eine eiserne Schranke den Weg. »Warte«, stieß er angespannt hervor, »wir müssen vorsichtig sein.«
Clary sah zu ihm auf, aber er schaute mit wütendem und schmerzerfülltem Gesicht an ihr vorbei. Sie folgte seinem Blick und entdeckte etwas, das sie vorher nicht hatte sehen wollen: Silberne Fesseln, die mit schweren Ketten auf beiden Seiten des Betts im Granitboden verankert waren, schlossen sich um Jocelyns Hand- und Fußgelenke. Der Nachttisch neben dem Bett war übersät mit einer seltsamen Mischung aus Schläuchen und Phiolen, Glasgefäßen und langen, spitz zulaufenden, chirurgischen Instrumenten aus glänzendem, messerscharfem Stahl. Eine dünne Sonde führte von einem der Glasgefäße zu einer Vene in Jocelyns linkem Arm.
Clary riss sich von Luke los, warf sich auf das Bett und schlang die Arme um den reglosen Körper ihrer Mutter. Doch genauso gut hätte sie eine Schaufensterpuppe umarmen können. Jocelyn lag starr und steif da; ihr langsamer Atemrhythmus blieb unverändert.
Noch eine Woche zuvor – als sie die schreckliche Auseinandersetzung mit ihrer Mutter gehabt hatte und diese bei ihrer Rückkehr verschwunden war – wäre Clary in Tränen ausgebrochen. Doch nun fühlte sie sich wie versteinert, als sie sich aufrichtete und ihre Mutter losließ. Sie verspürte weder Furcht noch Selbstmitleid, nur eine kalte Wut und den brennenden Wunsch, den Mann zu finden, der Jocelyn das angetan hatte, der für all dies verantwortlich war.
»Valentin«, sagte sie bitter.
»Natürlich. Wer sonst?« Luke stand neben Clary, berührte vorsichtig Jocelyns Gesicht und hob ihre Lider. Ihre Augen wirkten leer und ausdruckslos wie Murmeln. »Man hat ihr keine Drogen oder Beruhigungsmittel verabreicht«, murmelte er. »Vermutlich handelt es sich um eine Art Zauberbann.«
Clary stieß einen kleinen unterdrückten Schluchzer aus. »Wie kriegen wir sie hier raus?«
»Ich kann ihre Fesseln nicht berühren«, sagte Luke. »Silber. Hast du vielleicht …«
»Die Waffenkammer«, rief Clary. »Da habe ich eine Axt gesehen. Mehrere sogar. Wir könnten die Ketten durchschneiden …«
»Diese Ketten lassen sich nicht zerbrechen.« Die Stimme, die von der Tür herüberdrang, klang tief, knurrig und vertraut. Clary wirbelte herum und entdeckte Blackwell. Er trug die gleiche Robe wie bei seinem Besuch in Lukes Wohnung und hatte die Kapuze in den Nacken geschoben. Unter dem Saum der Robe schauten schlammige Stiefel hervor. »Graymark«, sagte er und grinste hämisch. »Welch nette Überraschung.«
Luke richtete sich auf. »Falls du wirklich überrascht sein solltest, bist du ein Narr. Schließlich habe ich mich nicht besonders leise hier reingeschlichen.«
Blackwells Wangen leuchteten in einem noch dunkleren Violettrot auf als zuvor, doch er blieb reglos an der Tür stehen. »Bist du wieder mal der Anführer eines Wolfsrudels?«, fragte er und lachte gehässig. »Du hast dich nicht verändert, was? Lässt die Drecksarbeit immer noch von deinen Schattenwesen machen. Valentins Truppen sind dabei, sie in der Luft zu zerreißen und ihre Glieder über die gesamte Wiese zu verteilen, und du hockst hier oben im Trockenen und schäkerst mit deinen Freundinnen.« Er musterte Clary höhnisch. »Ist die Kleine hier nicht ein bisschen zu jung für dich, Lucian?«