Clary lief vor Wut rot an und ballte die Hände zu Fäusten, doch Luke blieb vollkommen ruhig. »Die da draußen würde ich nicht gerade als ›Truppen‹ bezeichnen, Blackwell«, erwiderte er höflich. »Das sind Forsaken. Gepeinigte, einst menschliche Wesen. Wenn ich mich recht erinnere, vertritt der Rat eine eindeutige Haltung zu alldem hier – dem Quälen von Menschen, dem Ausüben schwarzer Magie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Ratsmitglieder darüber sehr erfreut sein werden.«
»Pfeif auf den Rat«, knurrte Blackwell. »Wir brauchen weder ihn noch seine tolerante Haltung gegenüber Halbblütern. Außerdem werden die Forsaken nicht mehr lange Forsaken sein. Wenn Valentin erst einmal den Kelch an ihnen ausprobiert hat, sind sie Schattenjäger genau wie wir anderen. Und viel besser als die Milchbärte mit einem Herz für Schattenwesen, die der Rat heutzutage als Krieger losschickt.« Er grinste breit, wodurch seine Zahnstummel zum Vorschein kamen.
»Wenn das Valentins Pläne mit dem Kelch sind, warum hat er ihn dann nicht längst eingesetzt?«, fragte Luke. »Worauf wartet er noch?«
Blackwell hob beide Augenbrauen. »Weißt du das denn nicht? Er hat seinen …«
Ein aalglattes Lachen unterbrach ihn. Pangborn tauchte neben ihm auf; er war ganz in Schwarz gekleidet und trug einen Ledergurt über der Schulter. »Das reicht, Blackwell«, sagte er. »Du redest mal wieder zu viel.« Er ließ seine spitzen Zähne aufblitzen. »Interessanter Schachzug, Graymark. Ich hätte nicht gedacht, dass du die Gefühllosigkeit hast, dein neuestes Rudel auf ein Himmelfahrtskommando zu schicken.«
Ein Muskel zuckte in Lukes Wange. »Was ist mit Jocelyn?«, fragte er. »Was hat Valentin ihr angetan?«
Pangborn lachte amüsiert. »Ich dachte, sie wäre dir egal.«
»Ich begreife nicht, was er noch von ihr will«, fuhr Luke fort und ignorierte die höhnische Bemerkung. »Er hat den Kelch. Jetzt kann sie doch von keinem großen Nutzen mehr für ihn sein. Valentin war noch nie ein Freund von sinnlosem Töten. Morde mit einem bestimmten Ziel oder Zweck – das klingt schon eher nach ihm.«
Pangborn zuckte gleichgültig die Achseln. »Für uns spielt es keine Rolle, was er mit ihr vorhat«, erwiderte er. »Schließlich war sie mal seine Frau. Vielleicht hasst er sie ja. Da hast du deinen Zweck.«
»Lasst sie gehen«, sagte Luke. »Wenn ihr sie freigebt, werden wir mit ihr verschwinden und ich werde mein Rudel zurückrufen. Dann habt ihr was bei mir gut.«
»Nein!« Clarys wütender Ausruf veranlasste Pangborn und Blackwell zu einem teils ungläubigen, teils angewiderten Stirnrunzeln, als wäre sie eine sprechende Kakerlake. Clary wandte sich an Luke. »Was ist mit Jace? Er muss hier irgendwo sein.«
Blackwell lachte in sich hinein. »Jace? Ich kenne keinen Jace«, meinte er. »Natürlich könnte ich Pangborn bitten, Jocelyn freizulassen. Aber ich habe keine Lust dazu. Das Miststück hat mich immer wie ein Stück Dreck behandelt. Hielt sich wohl für was Besseres … mit ihrem Aussehen und ihrer Abstammung. Dabei war sie nichts weiter als ein kleines Biest mit einer langen Ahnenreihe. Und sie hat Valentin nur geheiratet, damit sie uns alle verraten konnte …«
»Enttäuscht, dass er nicht dich geheiratet hat, Blackwell?«, entgegnete Luke spöttisch, doch Clary konnte die kalte Wut in seiner Stimme hören.
Blackwells Gesicht lief dunkelrot an; er machte wütend einen Schritt in den Raum hinein und setzte zu einer Antwort an.
Im gleichen Moment griff Luke mit einer blitzartigen Bewegung, die Clary kaum wahrnahm, nach dem Skalpell auf dem Nachttisch und warf es. Der Stahl wirbelte durch die Luft und bohrte sich mit der Spitze in Blackwells Kehle, schnitt ihm förmlich das Wort ab. Er würgte, verdrehte die Augen und fiel auf die Knie, die Hände an der Kehle. Scharlachrote Flüssigkeit sprudelte zwischen seinen gespreizten Fingern hervor. Er öffnete die Lippen, als wollte er etwas sagen, doch stattdessen lief nur ein dünnes Blutrinnsal aus seinem Mund. Seine Hände sanken herab und er ging dröhnend zu Boden wie ein gefällter Baum.
»Ach, herrje«, näselte Pangborn und betrachtete angewidert den reglosen Körper seines Waffenbruders. »Wie unangenehm.«
Das Blut aus Blackwells aufgeschlitzter Kehle ergoss sich wie eine dickflüssige rote Suppe über den Boden. Luke packte Clary an der Schulter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Doch seine Worte drangen nicht zu ihr durch – Clary spürte nur ein dumpfes Dröhnen in ihrem Kopf. Plötzlich erinnerte sie sich an irgendein Gedicht, das sie in der Schule gelernt hatte – irgendetwas über den Tod … wenn man den ersten Toten gesehen hat, spielen alle weiteren keine Rolle mehr. Dieser Dichter hatte keine Ahnung gehabt, wovon er sprach, dachte sie.
Luke ließ sie los. »Die Schlüssel, Pangborn«, sagte er.
Pangborn stieß Blackwell mit dem Fuß an und blickte auf. Er wirkte gereizt. »Oder was? Wirst du sonst eine Spritze nach mir werfen? Auf dem Tisch lag nur ein einziges Skalpell«, höhnte er, griff über seine Schulter und zückte ein langes, rasiermesserscharfes Schwert. »Nein, nein. Wenn du die Schlüssel haben willst, wirst du wohl zu mir kommen und sie dir holen müssen. Nicht weil mich Jocelyn Morgenstern in irgendeiner Weise interessieren würde, sondern einzig und allein deshalb, weil ich schon so lange darauf warte, dich ins Jenseits zu befördern. Und jetzt ist es endlich so weit.«
Er schien sich an seinen Worten förmlich zu weiden, während er in beinahe freudiger Erwartung langsam näher kam. Seine Klinge blitzte im Mondlicht heimtückisch und drohend auf. Clary sah, wie Luke eine Handbewegung in ihre Richtung machte – seine Hand wirkte seltsam lang und seine Fingernägel waren spitz wie winzige Dolche –, und erkannte gleichzeitig zwei Dinge: dass er im Begriff war, sich zu verwandeln, und dass er ihr nur ein einziges Wort ins Ohr geflüstert hatte.
Lauf.
Clary lief. Sie umkurvte Pangborn, der sie kaum eines Blickes würdigte, sprang über Blackwells Leichnam und war im nächsten Moment durch die Tür, noch bevor Lukes Verwandlung vollständig vollzogen war. Ihr Herz raste, aber sie schaute sich nicht um, als sie hinter sich ein langes, durchdringendes Wolfsheulen hörte, den Klang von Metall und ein krachendes Klirren. Splitterndes Glas, dachte sie. Vielleicht hatten sie Jocelyns Nachttischchen umgestoßen.
Sie stürzte durch den Korridor zur Waffenkammer und griff nach einer verwitterten Axt mit Stahlheft, die an einer Wand hing. Doch die Waffe rührte sich keinen Millimeter, sosehr sie auch daran zerrte. Clary versuchte ihr Glück bei einem Schwert, dann bei einem Klingenstab und sogar bei einem kleinen Dolch, doch nicht eine einzige Waffe ließ sich aus ihrer Halterung nehmen. Nach einer Weile musste sie ihre Versuche mit blutig eingerissenen Fingernägeln aufgeben. Dieser Raum war beherrscht von einem Zauberbann. Nicht von der vertrauten Kraft der Runen, sondern von einer wilden, seltsamen, düsteren Form von Magie.
Clary taumelte rückwärts aus der Waffenkammer; in diesem Geschoss gab es nichts, was ihr weiterhelfen konnte. Sie humpelte den Korridor entlang – allmählich spürte sie den Schmerz abgrundtiefer Erschöpfung in Armen und Beinen – und stand schließlich wieder im Treppenhaus. Nach oben oder nach unten? Unten war alles dunkel und verlassen gewesen, erinnerte sie sich. Natürlich hätte sie sich mit ihrem Elbenlicht einen Weg suchen können, doch bei dem Gedanken daran, diese schwarzen Tiefen allein zu erkunden, ließ irgendetwas sie zögern. Über ihr strahlten weitere Lichter und einen Moment lang glaubte sie, einen Schatten oder eine Bewegung gesehen zu haben.