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Isabelle stand mit Church auf dem Arm am Fenster. Geistesabwesend streichelte sie den Kater, der sie aus unheilvollen gelben Augen musterte. Auf der anderen Seite des Fensters tobte ein schwerer Novembersturm und der Regen lief wie Klarlack an den Scheiben herunter. »Nicht mehr lange«, erwiderte sie gedehnt. Sie trug kaum Make-up, nur etwas Wimperntusche, wodurch sie jünger wirkte und ihre dunklen Augen größer erschienen. »Wahrscheinlich fünf Minuten oder so.«

Clary saß auf Izzys Bett, zwischen herumliegenden Modezeitschriften und klirrenden Seraphklingen, und musste mehrfach schlucken, um den bitteren Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Ich bin gleich wieder zurück. Ich brauch nur fünf Minuten.

Das waren ihre letzten Worte auf der Dachterrasse gewesen – zu dem Jungen, den sie mehr als alles andere auf der Welt liebte. Inzwischen hatte sie das Gefühl, dass es möglicherweise ihre letzten Worte für Jace gewesen sein könnten.

Clary erinnerte sich noch genau an jenen Augenblick: Die Dachterrasse. Die kristallklare Oktobernacht. Die kalt funkelnden Sterne am wolkenlosen schwarzen Himmel. Die Steinplatten, mit schwarzen Runen verunstaltet und mit Blut und Dämonensekret beschmiert. Jace’ Mund auf ihren Lippen – das einzig Warme in dieser eisigen Welt. Der Morgenstern-Ring an ihrer Halskette. Die Liebe, die kreisen macht die Sonne wie die Sterne. Ihr letzter Blick hinüber zu Jace, als sich die Tür des Aufzugs geschlossen und dieser sie in die Schatten des Gebäudes hinuntergezogen hatte. Sie hatte die anderen im Foyer getroffen, ihre Mutter, Luke und Simon umarmt. Aber wie immer war ein Teil von ihr bei Jace zurückgeblieben, auf der Dachterrasse, allein mit ihm hoch oben über der kalten, leuchtenden, elektrisch funkelnden Stadt.

Maryse und Kadir waren in den Aufzug gestiegen und hochgefahren, um zu Jace zu stoßen und sich die Überreste von Liliths Ritual anzusehen. Es hatte etwa zehn Minuten gedauert, ehe Maryse schließlich zurückgekehrt war, allein, ohne Kadir. Als die Aufzugstür aufschwang und Clary ihr Gesicht sah, kreidebleich, angespannt und aufgewühlt, da wusste sie sofort, dass etwas Schreckliches passiert war.

Die darauffolgenden Minuten erlebte Clary wie in einem Albtraum. Die Gruppe der Schattenjäger im Foyer stürmte auf Maryse zu; Alec löste sich von Magnus und Isabelle sprang von der Bank auf. Weiße Lichtstrahlen durchschnitten die Dunkelheit wie Kamerablitze an einem Tatort, als ein Nephilim nach dem anderen seine Seraphklinge zückte und in die Höhe hielt. Während Clary sich durch die Menge arbeitete, hörte sie bruchstückweise, was vorgefallen war: Die Dachterrasse hatte verlassen dagelegen; Jace war verschwunden. Der gläserne Sarg, in dem Sebastian geschwebt hatte, war zertrümmert; die Glasscherben lagen überall verstreut. Blut, frisches Blut, tropfte von dem Sockel, auf dem der Sarg gestanden hatte.

Die Schattenjäger einigten sich rasch auf einen Plan und strömten dann in alle Richtungen davon, um die Gegend um das Gebäude herum abzusuchen. Mit blaue Funken sprühenden Fingern kam Magnus auf Clary zu und fragte, ob sie einen Gegenstand von Jace besaß, mit dem er versuchen konnte, den jungen Nephilim zu orten. Benommen gab Clary ihm den Morgenstern-Ring und zog sich anschließend in eine Ecke zurück, um Simon anzurufen. Sie hatte gerade ihr Handy zugeklappt, als eine Schattenjägerstimme alle anderen übertönte: »Orten? Das funktioniert doch nur, wenn er noch lebt. Aber bei der Blutmenge ist das nicht sehr wahrscheinlich…«

Irgendwie war das der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Fortdauernde Unterkühlung, Erschöpfung und Schock machten sich schlagartig bemerkbar und Clary spürte, wie ihre Knie nachgaben. Ihre Mutter konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Danach war alles dunkel und verschwommen. Als sie am nächsten Morgen in ihrem Bett in Lukes Haus aufwachte, setzte sie sich ruckartig und mit wild pochendem Herzen auf, fest davon überzeugt, dass sie einen Albtraum gehabt hatte.

Aber während sie sich aus den zerwühlten Bettlaken kämpfte, erzählten ihr die verblassenden Blutergüsse an ihren Armen und Beinen eine andere Geschichte, eine Geschichte, die durch den fehlenden Morgenstern-Ring bestätigt wurde. Hastig sprang Clary in ihre Jeans, streifte einen Kapuzenpullover über und wankte ins Wohnzimmer, wo Jocelyn, Luke und Simon mit düsterer Miene dasaßen. Obwohl sich die Frage eigentlich erübrigte, stieß sie dennoch hektisch hervor: »Hat man ihn gefunden? Ist Jace wieder da?«

Langsam erhob Jocelyn sich aus ihrem Sessel. »Nein, Süße, er ist weiterhin wie vom Erdboden verschluckt…«

»Aber nicht tot? Man hat keinen Leichnam gefunden?« Clary ließ sich neben Simon auf das Sofa fallen. »Nein – er ist nicht tot. Das würde ich wissen

Während Clary nun auf Isabelles Bett saß, erinnerte sie sich wieder daran, wie Simon ihre Hand gehalten hatte, als Luke die wenigen Informationen zusammengefasst hatte: Jace war noch immer verschwunden, genau wie Sebastian. Außerdem hatte Luke eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte lautete: Das Blut auf dem Sockel hatte identifiziert werden können – es stammte von Jace. Aber die gute Nachricht war: Es handelte sich um deutlich weniger Blut als ursprünglich angenommen. Offenbar hatte es sich mit dem Wasser aus dem zertrümmerten Sarg vermischt und so den Eindruck einer gewaltigen Blutmenge erweckt. Daher war es durchaus möglich, dass Jace überlebt hatte – was auch immer mit ihm passiert sein mochte.

»Aber was genau ist denn passiert?«, hakte Clary nach.

Luke schüttelte den Kopf, seine blauen Augen schauten traurig. »Das weiß niemand, Clary.«

In dem Moment fühlte es sich so an, als würde Eiswasser durch ihre Adern strömen. »Ich will bei der Suche helfen. Irgendwas tun. Und nicht nutzlos rumsitzen, während Jace vermisst wird.«

»Darüber würde ich mir an deiner Stelle keine Sorgen machen«, bemerkte Jocelyn grimmig. »Der Rat will dich nämlich sprechen.«

Unsichtbare Eiskristalle knackten in Clarys Gelenken und Sehnen, als sie aufstand. »Prima. Von mir aus. Ich werde ihnen alles erzählen, was sie wissen wollen, wenn sie dafür Jace finden.«

»Du wirst ihnen alles erzählen, was sie wissen wollen, weil sie das Engelsschwert haben.« Verzweiflung schwang in Jocelyns Stimme mit. »Ach, Süße, es tut mir so leid.«

Nach zwei Wochen ständiger Befragungen, nach etlichen Zeugenaussagen und nachdem sie das Engelsschwert etwa ein Dutzend Mal in den Händen gehalten und Bericht erstattet hatte, saß sie jetzt hier in Isabelles Zimmer und wartete darauf, dass der Rat über ihr weiteres Schicksal entschied. Bei der Erinnerung an das Engelsschwert fuhr Clary ein Schauer über den Rücken: Es hatte sich angefühlt, als würden sich winzige Angelhaken in ihre Haut bohren und ihr die Wahrheit förmlich aus dem Körper ziehen. Sie hatte auf dem Boden gekniet, inmitten der Sprechenden Sterne, das Schwert in den Händen, und ihre eigene Stimme gehört, die den Ratsmitgliedern alles erzählte: wie Valentin den Erzengel Raziel herbeigerufen und wie sie ihrem Vater die Macht über den Engel aus der Hand genommen hatte, indem sie seinen Namen mit ihrem eigenen überschrieb. Wie der Engel ihr eine Gunst gewährt und sie diese genutzt hatte, um Jace von den Toten zurückzuholen. Außerdem hatte sie dem Rat berichtet, wie Lilith von Jace Besitz ergriffen und versucht hatte, mit Simons Blut Sebastian wiederzubeleben – Clarys Bruder, den Lilith als ihren Sohn betrachtet hatte. Und wie Simons Kainsmal Lilith vernichtet hatte, weshalb sie Sebastian ebenfalls als besiegt und nicht länger als eine Gefahr betrachtet hatten.

Clary seufzte und klappte ihr Handy auf, um nach der Uhrzeit zu sehen. »Die Ratsmitglieder sitzen jetzt schon seit einer Stunde zusammen und beraten sich«, sagte sie. »Ist das normal? Oder ist das ein schlechtes Zeichen?«

Isabelle setzte Church auf den Boden, der sich miauend beschwerte. Dann kam sie zum Bett und hockte sich neben Clary. Die junge Schattenjägerin erschien zwar noch schlanker als sonst – genau wie Clary hatte sie während der vergangenen zwei Wochen Gewicht verloren –, wirkte aber in ihrer schwarzen Röhrenhose und dem taillierten grauen Samttop elegant wie eh und je. Die Wimperntusche war leicht verschmiert. Eigentlich hätte sie dadurch aussehen müssen wie ein Waschbär, doch stattdessen wirkte sie nur noch mehr wie ein französischer Filmstar. Als Izzy mit den Händen gestikulierte, klimperten ihre Elektrumarmbänder mit den Runenanhängern melodisch. »Nein, das ist kein schlechtes Zeichen«, erklärte sie. »Es bedeutet lediglich, dass die Ratsmitglieder viel zu besprechen haben.« Nachdenklich drehte sie den Lightwood-Ring an ihrem Finger. »Mach dir keine Sorgen. Schließlich hast du nicht gegen das Gesetz verstoßen und das ist die Hauptsache.«